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Schmauchspuren #38

Als Umrahmung: schlaflose Amokläufer und ein nächtlicher Amokfahrer. Und dazwischen Erinnerungen an goldene Noir-Zeiten, ihr modernes Äquivalent im finsteren Chicago und die Frage, wozu wir heute noch Agentenkrimis brauchen. Peter Hiess verliert sich in kriminellem Gedankengut.    29.10.2014

Peter Hiess

Charlie Huston - Die Plage

Heyne Tb. 2011

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Die Welt versinkt in Wahnsinn, Verbrechen und Terror.

Nein, das ist kein Zitat aus den Nachrichten von gestern (die waren langweilig, wie immer), sondern eine kurze Zusammenfassung des apokalyptischen Szenarios, in dem sich Parker Haas, ein idealistischer Undercover-Cop des Los Angeles Police Department, in Charlie Hustons Thriller "Die Plage" findet. Eine Seuche raubt immer mehr Menschen den Schlaf - und wenn sie lange Zeit nicht mehr träumen können, reicht es ihnen nicht mehr, in den künstlichen Welten des Online-Rollenspiels "Chasm Tide" zu versinken, sondern sie drehen durch, ermorden ihre Familien oder verüben Anschläge. Gegen die Plage hilft nur ein rares Medikament namens Dreamer, das den tödlichen Verlauf der Krankheit wenigstens erträglich macht. Haas soll dafür sorgen, daß das Mittel nicht auf den Schwarzmarkt gelangt. Dabei hat er es nicht nur mit Dealern und Hackern, sondern auch mit unkooperativen Kollegen, exzentrischen Millionärssöhnen, einem Profikiller und der eigenen Kleinfamilie zu tun. Huston (der mit seinen Joe-Pitt-Vampirromanen auch im phantastischen Genre Erfahrung sammelte) zeichnet eine glaubwürdige Welt der nahen Zukunft, in der er seine Protagonisten durch reale und virtuelle Höllen schickt. Ganz anders als das Durchschnitts-Krimimaterial, das Monat für Monat auf den Wühltischen landet - und nicht nur deshalb lesenswert.

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Jack Clark - Nobody´s Angel

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2010

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Der vorletzte Pulp-Thriller von Hard Case Crime (hoffentlich macht Titan Books bald weiter) trägt die Nummer 65, heißt "Nobody´s Angel" und hat eine recht ungewöhnliche Entstehungsgeschichte: Autor Jack Clark war und ist Taxifahrer in Chicago, der seinen Roman 1996 in einer kleinen Auflage selbst drucken ließ und an seine Fahrgäste verkaufte. Auch im knapp und stimmungsvoll erzählten Buch selbst geht’s um einen Taxler, der es zwar mit Serienmördern (ohne die geht’s scheinbar nicht ...) zu tun kriegt, aber in erster Linie und fast in Vignettenform über das Leben auf den Großstadtstraßen, im Dunkel der Nacht, im Dschungel von Kriminalität, Gier und Perversion berichtet. Echter, zutiefst melancholischer Noir und ein würdiger Fast-Abschluß.

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Otto Penzler (Ed.) - The Black Lizard Big Book of Black Mask Stories

Vintage Crime/Black Lizard 2010

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Noch eine Originalempfehlung und so umfangreich, daß selbst Schnelleser damit über den Urlaub kommen - wenn sie diesen Wälzer mitschleppen wollen. Aber für das "Big Book of Black Mask Stories" lohnt sich das Übergepäck. Auf mehr als 1100 Seiten finden sich hier Noir-Klassiker aus einem der berühmtesten Literaturmagazine der Pulp-Ära: In "Black Mask" schrieben Größen wie Dashiell Hammett, Cornell Woolrich, John D. MacDonald und Erle Stanley Gardner, die hier alle mit zeitlos guten Kurzgeschichten vertreten sind. Der perfekte Begleitband zum "Big Book of Pulps" aus dem selben Verlag.

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Olen Steinhauer - Last Exit

Heyne 2011

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Nicht nur die "beste Zeit" der Noir-Short-Story ist lange vorbei, sondern auch der Kalte Krieg. Da fragt man sich doch, wozu es noch Agenten-Thriller gibt; die Jagd auf die angeblichen "Terroristen" der Gegenwart ist ja längst nicht so abendfüllend wie der einstige Konflikt zwischen den Westmächten und dem "Evil Empire". Schriftsteller wie Olen Steinhauer, der mit "Der Tourist" einen Bestseller landete, verlegen sich daher immer mehr auf ultrageheime Geheimdienstabteilungen, von denen oft nicht einmal der US-Präsident etwas ahnt, und die einander intern bekämpfen. Milo Weaver, der auch im Nachfolger "Last Exit" die Hauptrolle spielt, ist einer der CIA-"Touristen", die ohne Heimat und Identität immer irgendwo in der Welt unterwegs sind und neben Botendiensten für den Großherrscher USA auch Mordaufträge ausführen. Diesmal soll Milo jedoch ein 15jähriges Migrantenmädchen in Deutschland killen; da er aber selbst eine (ziemlich entfremdete) Familie hat, zieht er hier seine private Grenze. Und los geht´s mit den Spionageintrigen, die durch Weavers Vater (Leiter einer ultra-mega-geheimen UN-Agentenorganisation) noch verkompliziert werden. Flüssig erzählt und lesbar, aber dennoch bis in die Konflikte des Protagonisten sehr berechenbar und daher irgendwie unnötig ...

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Raouf Khanfir - Wittgenstein

Hablizel 2011

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Mit ungewöhnlichem Lesematerial fing diese Kolumne an, und so soll sie auch enden. Raouf Khanfirs Roman "Wittgenstein" ist nur im weitesten Sinne ein Krimi (es gibt darin einen Amokfahrer, der im dörflich-deutschen Wittgenstein harmlose Fußgänger erlegt), aber dafür ein außerordentliches Stück moderner existentialistischer Literatur, erschienen in einem lobenswerten Indie-Verlag - und mit einem orientierungslosen Protagonisten, der zwischen Kanada und der europäischen Provinz, Szene und Zurückgezogenheit, Geistern der Vergangenheit und Angst vor der Zukunft hin- und heroszilliert. Viele gute Ideen, eindrucksvolle Stimmungsbilder, ein mehr als nur interessanter Ansatz. Die paar Euros für dieses Buch kann man guten Gewissens riskieren.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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