Orhan Pamuk - Schnee
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Hanser-Verlag (D 2005)
Ein türkischer Autor liefert eine Analyse der sozialen und politischen Lebensbedingungen seiner Heimat - am Rande von Globalisierung und aufkeimendem Islamismus. 31.05.2005
Der Protagonist von Orhan Pamuks mehr als 500 Seiten starkem Opus "Schnee" ist der Dichter Ka, der aus dem deutschen Exil zum Begräbnis seiner Mutter in die Türkei zurückkehrt. Für eine renommierte Istanbuler Zeitung soll er in die ostanatolische Stadt Kars fahren, um dort eine Reportage über eine Reihe mysteriöser Selbstmorde junger Frauen zu verfassen, die sich - so wird angenommen - aus Verzweiflung wegen des Kopftuchverbots an den Schulen umbrachten. Doch noch etwas anderes zieht Ka nach Kars: Er hofft seine Jugendliebe aus Studentenzeiten wiederzufinden - Ipek, die schönste Frau, die er je zu Gesicht bekam.
Als Ka in Kars ankommt, schneit es bereits heftig. Doch so weiß der Schnee auch ist, so wenig kann er das Elend der Bewohner verhüllen. Kars, einst Handelsmetropole, ist heute von hoher Arbeitslosigkeit, Depression und Armut gezeichnet. Die Einwohner sind Türken, Kurden, Tscherkessen, Turkmenen, Armenier und Kaukasier, die gleichzeitig einen Mikrokosmos politischer Gruppierungen darstellen: Islamisten, kurdische und türkische Nationalisten, Marxisten, Militär und Anhänger des Militärs. Orhan Pamuk läßt die Bewohner selbst zu den "Turbanmädchen" Stellung nehmen. Ka notiert penibel die Gespräche. Währenddessen stehen die Regionalwahlen bevor, und den konservativen Islamisten werden gute Chancen eingeräumt: ein Pulverfaß.
Der Dichter mietet sich im "Schneepalast" ein - dem Hotel, das Ipeks Vater gehört. Beim Wiedersehen verliebt er sich auf der Stelle und stellt erstaunt fest, daß seine Schreibblockade überwunden ist. Er beginnt in dieser trostlosen Athmosphäre, inspiriert durch die Schönheit Ipeks und seine eigene Zuneigung, Gedichte zu schreiben. So wie der Schnee, der unaufhörlich vom Himmel fällt, rieseln permanent Gedichte in Kas kleines grünes Heft, das später von großer Bedeutung sein wird. Noch in derselben Nacht wird Kars völlig eingeschneit und von der Umwelt abgeschnitten.
Am nächsten Tag werden Ipek und er Zeugen eines Mordes, als ein junger Islamist im Teehaus den Direktor der pädagogischen Hochschule erschießt, der Mädchen mit Kopfbedeckung von der Schule verwiesen hatte. Von da an überschlagen sich die Ereignisse. Am Abend verwandelt sich eine Theateraufführung in einen Militärputsch, angezettelt von einem alternden Schauspieler, seiner Frau und einem Major. Das alles findet vor laufender Kamera von Kars-Grenz-TV statt. Kurden werden verschleppt und gefoltert, die Schüler der Vorbeter und Predigerschule eingesperrt, der Wahnsinn bricht aus. Mittendrin steckt der Dichter Ka, der von den Putischsten am Anfang verschont bleibt. Als ihn die Polizisten Ka mit Glacéhandschuhen angreifen, wird die Zweiklassengesellschaft der Türkei auch für ihn deutlich sichtbar, da er in den anderen Vernehmungsräumen Schreie und Prügelgeräusche wahrnimmt. Die nüchterne Beschreibung der Vorkommnisse und die Äquidistanz, die Orhan Pamuk zu allen politischen Gruppen aufrecht hält, unterstreichen nur, wie normal das alles ist. Manche Bewohner von Kars freuen sich sogar, daß endlich wieder ein Putsch ihre Alltagsmonotonie unterbricht.
Das Fernsehen spielt in Pamuks Roman eine zentrale Rolle, ist Symbol der Verdummung und Paralyse. Es dringt überall ein - in die Intimsphäre der Wohnzimmer, wo sich allabendlich die Familien versammeln, um die südamerikanische Soap "Marianna" anzusehen; oder in das Theater, in dem der Putsch seinen Anfang nimmt. In Ermangelung anderer Belustigungen hat das Fernsehen inzwischen die gesamte Türkei gelähmt. Wer vor dem Gerät dahinvegetiert, plant keine Revolutionen, vergißt Gott und sich selbst. Auch der Schnee kann als Synonym für Stagnation verstanden werden. Für den Dichter Ka ist er jedoch eine permanente Quelle der Inspiration - und fast scheint es, als würde Ka durch sein Liebe zu Ipek auch seine Liebe zu Allah wiederfinden.
Wenn der Leser jetzt glaubt, Zeuge einer islamischen Wiedererweckung zu werden, irrt er gewaltig. Denn Ka erkennt, daß er seine Liebe zu Ipek mit jener zu Gott verwechselt. Daran ändert auch der Besuch beim heiligen Mann - dem Scheich Saadettin - nichts, dem er automatisch die Hand küßt. Ka ist schon zu sehr "verwestlicht", wuchs er doch als Sohn einer reichen Famlie im noblen Istanbuler Viertel Nisantasi auf (wie auch Pamuk selbst). Er wird in Kars als Atheist betrachtet und so zum ersten Mal herausgefordert, seine eigene Position zu formulieren, seine Identität zu hinterfragen. Ein gar nicht einfaches Unterfangen.
"Schnee" funktioniert auf mehreren Ebenen. Es ist ein intelligenter Politkrimi, eine romantische Liebesgeschichte, ein Buch über Religion und Selbstfindung und nicht zuletzt ein Buch über das Geheimnis des Gedichteschreibens. Ein weiterer Schlüssel ist die Dialektik von Verhüllung und Enthüllung. Dafür sprechen schon die militanten Turbanmädchen, deren Anführerin Ipeks Schwester Kadife ist. Aber warum tragen muslimische Frauen überhaupt das Kopftuch? Und: Was ist übergeordnet - Koran oder Staat? Auch Ka schätzt seinen aschgrauen Mantel, den er in Frankfurt gekauft hat und der ihn immer wieder an sein Exil erinnert, wenn er sich darin einwickelt. Er spürt, er wird sich bald entscheiden müssen, wohin er gehört.
Der Militärputsch ist letztlich zum Scheitern verurteilt, bald werden die Straßen wieder passierbar sein, und dann können die Regierungstruppen endlich den Spuk beenden. Einstweilen hofft Ka, unbeirrbar von all dem Greuel, das sich um ihn abspielt und in das er sogar selbst als Vermittler eingreift, auf eine gemeinsame Zukunft mit Ipek, der er bereits einen Heiratsantrag gemacht hat. Sie will sogar mit ihm nach Frankfurt ziehen. Doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern ...
Pamuks Roman ist die Geschichte einer Identitätsuche, mehr noch: der Suche nach einer Heimat. Einer Heimat, die sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert hat. Früher lebten die verschiedenen Volksgruppen freundschaftlich miteinander in Kars, doch seit der Schatten der Globalisierung über das Land zog, erinnern sie sich an ihre Abstammung, deklarieren sich als Armenier, Kurden, Tscherkessen, Russen und Türken. Das allerorts aufkeimende Nationalitätsbewußtsein erzeugt Spannungen. Hier kommt auch die rigide Intoleranz der türkischen Regierung zum Vorschein, die dogmatisch behauptet, daß alle Menschen, die innerhalb der türkischen Grenzen leben, Türken seien. Der Autor wird nicht müde, in seinem Roman auf das Armenier-Massaker von 1919 hinzuweisen, ohne es jedoch beim Namen zu nennen. So schlendert Ka durch die Straßen, vorbei an russischen Palästen und armenischen Prunkbauten, die verlassen und leer in den Himmel ragen - stummen Zeugen einer multikulturellen Vergangenheit. Er trifft ältere Menschen, die ihm von den 100.000 Armeniern erzählen, die früher einmal in der Handelsstadt lebten. Dieses "andere zitieren" als Stilmittel macht es Pamuk möglich, indirekt alle Mißstände aufzuzählen, ohne je verurteilend, moralisch oder gar polemisch zu wirken.
Seine trockene, deskriptive Prosa, die gelegentlich an die russischen Naturalisten erinnert, macht klar, woraus die Normalität in der heutigen Türkei zusammengewürfelt ist. Sie ist ein widersprüchliches Land, einerseits immer noch trauernd über den Niedergang des osmanischen Reiches, andererseits im neuen Jahrtausend in Aufbruchstimmung begriffen.
Auf dem Sprung ins vereinte Europa wundert es nicht, daß Pamuks Bücher in letzter Zeit von türkischen Nationalisten auf Demonstrationen öffentlich verbrannt werden. Er, der Liberale, der selbst immer wieder mit Todesdrohungen konfrontiert wird, mußte jüngst eine Lesereise nach Deutschland absagen. Im Verlauf des Romans fragt man sich gezwungenermaßen, welcher politischen Gruppierung der Autor angehören mag. Doch Humanismus hat keine Couleur und ist schon gar keine Partei, sondern vielmehr eine rare intellektuelle Gesinnung. Daß Pamuk mit dieser offenen Haltung in seiner Heimat aneckt, schmerzt besonders und zeigt, daß es in der Türkei nach wie vor kein Recht auf freie Meinungsäußerung gibt. Dabei ist dieses Recht ein Eckpfeiler jeder funktionierenden Demokratie.
Es ist ein weiter Weg nach Europa ...
Orhan Pamuk - Schnee
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