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Schmauchspuren #41

Sind es nicht immer üble Kinderschänder-Klüngel, die im modernen Krimi jeden blutigen Rachefeldzug rechtfertigen? Und sitzen in der Provinz wirklich nur desillusionierte Ex-Polizisten, die das Verbrechen anlocken? Peter Hiess findet im Klischeedschungel mittlerweile sogar mörderischen Soft-Porn erquicklich.    10.12.2014

Peter Hiess

Simon Kernick - Vergebt mir/Fürchtet mich

Heyne Tb. 2011

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Daß ein Polizist zum Profikiller wird, das gab es schon im wirklichen Leben. Und im Kriminalroman erst recht. Daß man die Motivation eines derart zwiespältigen Protagonisten aber so gar nicht nachvollziehen kann, das ist neu. Dennis Milne, Serienheld des Engländers Simon Kernick, leidet weder genug private Qualen, um den Schritt vom Gesetzesvertreter zum gedungenen Mörder zu rechtfertigen, noch ist seine Umwelt ausreichend übel. Ja, klar, die Gesetzeshüter sind fast durchwegs korrupt, die Richter strafen lieber Opfer als Täter, und auch sonst ist London in Kernicks Büchern eher düster und schmierig. So weit, so noir - und so sattsam bekannt. Trotzdem bleibt unklar, warum sich Milne in "Vergebt mir", dem schleppend erzählten ersten Teil der Serie, auf bezahlte Morde für einen unseriösen Auftraggeber einläßt - nur weil die Opfer angeblich böse Kriminelle sind. Irgendwann killt er dann halt dummerweise ein paar Undercover-Beamte und muß in den Untergrund abtauchen. Dort wird´s kurz spannend, weil der Antiheld sich des Falls einer ermordeten Jungprostituierten annimmt - aber auch der mündet wieder nur ins abgelutschte Szenario von den gutsituierten Kinderschändern.

In der Fortsetzung "Fürchtet mich" gibt der diesmal sympathischer gezeichnete Protagonist sein neues Leben auf den Philippinen auf, um in der britischen Hauptstadt Rache an den Mördern eines Exkollegen zu nehmen. Dabei sticht er (mit aller nötigen Brutalität) in ein Wespennest, in dem jedoch wieder nur die üblichen Pädophilen lauern. Schön langsam sollten sich die Krimiautoren vielleicht was Neues einfallen lassen ... denn selbst gut erzählte Hardboiled-Thriller gehen unter der Last solcher Klischees ziemlich in die Knie.

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Michael Marshall - Die Eindringlinge

Knaur Tb. 2011

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Michael Marshall, der sich im Serialkiller/Conspiracy-Sektor ("Der zweite Schöpfer" ff.) bereits einen Namen gemacht hat, versucht gar nicht erst, der Klischeefalle zu entkommen, sondern schöpft zu Lasten der Spannung lieber tief aus dem Hollywood/TV-Topf der allseits bekannten Handlungselemente. Fangen wir also an: Ex-Cop aus Seattle, der in die Provinz gezogen ist und sich als Buchautor versucht, anstatt weiterhin gegen die tägliche Gewalt auf den Mean Streets anzukämpfen; mysteriöse Mordserie, in deren Untersuchung er sich dann doch - ein letztes Mal, naturgemäß - hineinziehen läßt; großangelegte Verschwörung, in die auch seine erfolgreiche Frau verwickelt ist; immer mehr "X Files"-Mystery-Handlungselemente, die nach einem zähen Mittelteil ganz das Ruder übernehmen; Endkampf und Ritt in die Dämmerung. Das Ergebnis dieser ungesunden Mischung wirkt leider nur selten packend, wird immer abstruser und läßt den Leser mit dem Gefühl zurück, daß er - und der Protagonist - ihre Zeit gescheiter verbringen hätten können. Zum Beispiel mit Mulder und Scully auf DVD.

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James Sallis - Dunkles Verhängnis

Heyne Tb. 2011

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James Sallis wurde an dieser Stelle schon mehrmals gelobt, daher diesmal nur ein kleines Telegramm an seinen deutschen Verlag: "Salt River" ist ein weitaus besserer Titel als die schmalzig-mittelschülerhafte Wortkombination "Dunkles Verhängnis". Und dem letzten Teil der fast schon zu poetisch-philosophischen John-Turner-Trilogie (Ex-Cop klärt Kleinstadtverbrechen) wäre mit einer ordentlichen Übersetzung und einem ebensolchen Lektorat besser gedient gewesen. So stolpert man immer wieder über Schlampereien und ahnt, daß sich hinter der deutschen Ausgabe ein guter, subtiler Originaltext verbergen muß, der aber kaum Chancen hat, sich durchzusetzen.

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Lawrence Block - Getting Off

Hard Case Crime (Titan Books) 201

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Die gute Nachricht: Hard Case Crime ist wieder da! Der britische Verlag Titan Books führt die geniale Pulp-Reihe von Charles Ardai nach kurzer Kunstpause fort. Die schlechte Nachricht: Das geliebte Taschenbuch ist dem Trade-Paperback-Format gewichen, bei dem die trashigen Covers gleich viel weniger gut wirken. Und Band HCC-101, die Premiere der neuen Staffel, ist überhaupt gleich ein Hardcover. Aber was für eines: Krimi-Veteran Lawrence Block hat "gemeinsam" mit seinem Pseudonym Jill Emerson (einer Expertin für lesbische Erotik) den Roman "Getting Off" verfaßt, der von Seite eins an sein Versprechen "A Novel of Sex & Violence" erfüllt. Die Protagonistin, eine orgamusfixierte Sexbombe mit tausend Namen, treibt quer durch die USA, läßt sich zu One-Night-Stands verführen - und bringt ihre Liebhaber danach um. Nur fünf Männer sind der soziopathischen Mischung aus American Psycho und Mutzenbacher bisher entkommen; die will sie sich jetzt alle holen. Warum? Naja, der Papa hat sie geschändet (was sonst?), und Männer sind sowieso schlecht. Aber da wartet ja auch noch ein bisexuelles Liebchen ... und unsere Heldin hofft, daß ihre Mordlust nicht auch noch das Leben dieser ihrer wahren Liebe fordern wird. Sleazy. Absoluter Unfug. Aber gut.

 

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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