Andreas Gruber - Todesurteil
ØØØØ 1/2
(Goldmann 2015)
"Hol eine Decke aus dem Wagen. Otto, sieh dir nur ihren Rücken an. O Gott, fast der ganze Rücken!" Die Stimme der Frau klang entsetzt. "Ich habe so etwas noch nie gesehen. Was um Himmels willen ist mit ihr geschehen?"
Die zehnjährige Clara, ein Jahr zuvor spurlos verschwunden, taucht völlig verstört am nahegelegenen Rand des Wienerwalds wieder auf. Ihr gesamter Rücken ist mit Motiven aus Dantes "Inferno" tätowiert - und sie spricht kein Wort. Einiges deutet darauf hin, daß sie in einem Keller gefangengehalten wurde. Doch zu welchem Zweck? Zur selben Zeit nimmt der holländische Profiler Maarten S. Sneijder an der Akademie des BKA für hochbegabten Nachwuchs in Wiesbaden mit seinen Studenten ungelöste Mordfälle durch. Seine beste Schülerin Sabine Nemez entdeckt einen Zusammenhang zwischen mehreren Fällen, die auf das Werk eines Serienmörders hindeuten - doch das Arbeitspensum des raffinierten Killers ist offenbar noch lange nicht beendet. Die Spur führt nach Wien, wo die kleine Clara anscheinend die einzige ist, die den Mörder je zu Gesicht bekommen hat ...
Sneijder ("mit S!") ist wieder da! Eine der charismatischsten Ermittlerpersönlichkeiten der deutschsprachigen Thriller-Literatur - arrogant, besserwisserisch, politisch höchst unkorrekt und Freund nicht ganz legaler, dafür sanft bewußtseinsverändernder Substanzen - begibt sich wieder einmal auf Mörderhatz. Sein geistiger Vater, der Schriftsteller Andreas Gruber, schickt ihn diesmal in seinem nach "Todesfrist“ zweiten Fall buchstäblich durch die Hölle (nicht nur die von Dante). Mitunter bekommt man den Eindruck, daß er sich eine einfache Fahrkarte dorthin eingehandelt hat, auch wenn ihm seine Assistentin Sabine Nemez nach Kräften zur Seite steht.
Grubers Thriller-Mär hat sich im wahrsten Sinne des Wortes gewaschen (und damit ist nicht nur Wasser gemeint) und ist auch für Menschen geeignet, die das Wort Serienkiller eigentlich nicht mehr hören oder lesen können. Nach einem schön grauslichen Beginn, der sich - noch dazu für einen Roman, der ein großes Mainstream-Publikum erreichen soll - echt nichts scheißt, baut Gruber die Spannung zunehmend mit immer subtileren, dafür nicht weniger wirksamen Mitteln auf. Und darin, nämlich im Umgang mit Suspense, macht ihm sowieso keiner was vor; da zählt der Autor wohl zu den wenigen Schreibern unserer Breiten, die internationale Thriller-Profis nicht nur beerbt haben, sondern in der Zwischenzeit auch übertreffen. Gruber nimmt sich Zeit für die Entwicklung seiner Charaktere und hetzt nicht nur von einem Tatort zum nächsten. Obwohl klar verortet (Wiesbaden, Wien), haben wir es bei "Todesurteil" Gott sei Dank nicht mit einem der zahllosen Lokalkrimis zu tun, bei denen die erwähnten Sehenswürdigkeiten und ein Übermaß an ach-so-pittoreskem Lokalkolorit für fehlende Plot-Ideen herhalten müssen. Die Storyline ist komplex, die Wendungen sind zahlreich, und die Welt, in der Sneijder, Nemez und eine mit dem Fall Clara betraute Wiener Staatsanwältin leben, arbeiten und ermitteln, ist sowieso unsagbar schlecht.
Was wiederum sehr, sehr gut ist - für den Leser.
Der Österreicher Andreas Gruber, der bis jetzt 90 Prozent seines Erfolgs in Deutschland verbuchen durfte, hat auf jeden Fall einen Pageturner reinsten Wassers abgeliefert. Zwar kommen die Dialoge im Mittelteil des Buches punktuell ein bissl hölzern daher - doch spätestens im letzten Drittel ist das alles wieder vergessen, und die Achterbahn nimmt erneut Fahrt auf, um in einen ziemlichen Knalleffekt zu münden sowie einen vielversprechenden Hinweis auf einen dräuenden dritten Fall des Herrn Snejder zu liefern. Wir freuen uns schon drauf und wünschen Gruber, daß ihm auch hierzulande endlich jene Akzeptanz zuteil wird, die er im Rest der deutschsprachigen Welt schon längst besitzt - nämlich schlichtweg als Österreichs bester Thriller-Autor.
Ohne Wenn und Aber.
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