Print_Paul Drogla - Vom Fressen und Gefressenwerden

Wo die wilden Kerle wohnen

In Paul Droglas "Vom Fressen und Gefressenwerden" dreht sich alles um das Thema Kannibalismus im Film. Und damit ist es ein Reader, der in keiner Bibliothek fehlen sollte - findet Martin Compart.    23.01.2015

In meinem Aufsatz über Backwood-Thriller hatte ich anthropophagische Themen angerissen und dem Backwood-Genre zugeordnet. Ich halte dies und meine Begründung nach wie vor vertretbar. Allerdings, wie zuvor dargelegt, definiert sich das relativ neue Genre des Backwood-Thrillers vornehmlich nicht durch den Topos des Kannibalismus. Anthropophagie wird von vielen Genres und Subgenres, vom Reisebericht über die Robinsonade bis zum Kriminal-, Fantasy- und Abenteuerroman, genutzt. Als eigenständiges Genre, wie kurzfristig im Film, gibt es die Anthopophragie in der Literatur nicht, auch wenn sie zu den viel genutzten Motiven der Weird Fiction zählt.

 

 

Paul Drogla hat sich, literarische Einflüsse berücksichtigend, in seiner beeindruckenden Arbeit "Vom Fressen und Gefressenwerden. Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen" ausführlich dem Thema Kannibalismus im Film gewidmet. Beginnend mit den ersten anthropophagischen Erwähnungen im Altertum (Homer, Herodot), zeigt er ein durchgehendes ideologisches Konzept auf, mit dem sich die westliche Welt der Fremde gegenüber moralisch scheinbar überlegen definiert, um koloniale Eroberung zu rechtfertigen: "In der Fremde wohnen immer Ungeheuer, weil die Fremde nicht geheuer ist." In der Abgrenzung zum Kannibalismus intendiert die europäische Kultur sittliche Überlegenheit, die "gewaltsame Eroberung und Versklavung" rechtfertigt. Der Autor zeigt in seinem Buch auf, wie der Kannibalen-Topos zum intramedialen Phänomen wird.

 

 

Bevor er die mir bisher am vollständigsten erscheinende Aufarbeitung (er bezieht auch Kannibalendarstellungen in der Comedy, im historischen Film und im Zeichentrickfilm mit ein) der Anthropophagie im Film beginnt, gibt er einen aktuellen Überblick über den zwiespältigen Forschungsstand der Anthropologie seit William Arens Thesen, die den aggressiven Kannibalismus leugnen.

Er zeigt auf, wie die Entdeckung Amerikas und der karibischen Bevölkerung unsere Vorstellung vom Kannibalen bis heute prägen. Bei der Lektüre eines Exkurses über die "Robinsonade" zwang sich mir der Gedanke auf, daß Backwood-Thriller häufig und in vielen Mustern den Robinsonaden folgen.

Im Kapitel über Zombie-Filme weist Drogla darauf hin, daß sich im ursprünglichen Mythos des Zombies - als von Voodoo-Zauber verhext - noch einmal der Gegensatz zwischen "unserer" und fremder Zivilisation wiederholt. Ausgehend von George Romeros "Night of the Living Dead" verschwindet der haitianische Kulturhintergrund der Zombies, und die lebenden Toten mutieren zum Symbol des Kapitalismus, der sich selber frißt.

 

 

In den Kapiteln über den italienischen Kannibalenfilm (überzeugend und erhellend die genaue Einzelbetrachtung von Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust) enttarnt Drogla eine neue, zeitgemäße ideologische Strategie des anthropophagischen Horrors: "Der italienische Kannibalenfilm konterkariert ... die kannibalische Bestialität gern mit Gier, Raubbau, Vergewaltigung und Mord durch die Weißen, um einen oberflächlichen Vorwand und Rechtfertigungsgrund für die anschließenden Gewaltausbrüche der Nativen vorweisen zu können. ... Diese Aussagekraft zu Gunsten fremder, nativer Kultur wird durch Rassismus und strengen Ethnozentrismus jedoch vor dem Rezipienten verborgen ... wird als schmutziger und kulturfreier Gegenentwurf jeglichen Identifikationspotenzials für den Betrachter entrückt."

 

 

Vermeidbare Fehler wie die Behauptung, daß die Tarzan-Filme auf Comics basieren, schmälern den Gesamteindruck nicht. Großes Vergnügen über die Analyse hinaus bieten die Kapitelüberschriften, wie etwa "Ridley Scotts Wahrhaftigkeitsanspruch im Spiegel geifernder Kariben", "Hans Staden reloaded" oder "Frühe Einblicke in die Kochtöpfe".

Von Drogla und anderen Autoren ausgehend könnte man eine Betrachtung des Kapitalismus als Form des Kannibalismus anregen: Wenn wir, zum Beispiel, von Menschen unter erzwungenen, selbstzerstörerischen Bedingungen hergestellte Güter konsumieren, also uns einverleiben - ist dies nicht auch ein kannibalistischer Akt? Ähnliches gilt auch für den Katholizismus, der in seinen Riten Oblaten und Wein als Symbol für das Fleisch und das Blut des Gekreuzigten verzehren läßt. Der Kapitalismus strebt in allem (Umwelt, Menschen, Tiere, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) der Destruktion entgegen, um sich dies als Konsum oder Profit einzuverleiben.

Paul Droglas Buch, das aus einer Dissertation hervorgegangen ist, gehört in die sekundärliterarische Basisbibliothek zur Populärkultur und sollte auf keiner literarischen Speisekarte fehlen. Wir wünschen guten Appetit bei der Lektüre und raten zum baldigen Verzehr der dazugehörigen Filme!

 

Martin Compart

Paul Drogla - Vom Fressen und Gefressenwerden

ØØØØ

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(Tectum Verlag, D 2013)

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