Print_Joris-Karl Huysmans – Trugbilder

Kaputt in Paris

Der französische Exzentriker und Autor des Klassikers "Gegen den Strich" findet sich hier im Spannungsfeld von Naturalismus und Dekadenz wieder. Frei nach Coolio: "Been spending most of our lives living in a Spießer´s paradise".    23.05.2007

André, feinnerviger Poet und frisch verheiratet, kommt nach einer mäßig eleganten Abendgesellschaft bei der Familie Désableu früher als erwartet nach Hause und findet dort seine Frau, ein zerwühltes Bett und einen ihm unbekannten Mann im Hemd vor. Verzweifelt packt er seine Sachen und zieht zu seinem Freund Cyprien, einem liebenswert-chaotischen Maler, der ihn aufnimmt und ihm hilft, sein Leben neu zu ordnen. Und das ist ein durchaus mühseliger Prozeß, da André bald in eine durch Schreibhemmung und Einsamkeit geprägte Krise gerät.

Joris-Karl Huysmans zeichnet die "Trugbilder" nicht ohne autobiographischen Leidensdruck. In eine unruhige Zeit hineingeboren (am 5. Februar 1848, als in Paris die Vorbereitungen für die Februarrevolution in vollem Gang sind und die sich rasch ausbreitenden Unruhen einen ersten unrühmlichen Höhepunkt in der blutigen Niederschlagung des Juniaufstands finden), lernt der kleine Joris gerade krabbeln, als die Republik ihrem Ende entgegentorkelt und 1851 Napoleons Enkel zum Kaiser von Frankreich krönt.

Im Huysmansschen Haushalt dürfte Politik besonders nach dem frühen Tod des Vaters und der Wiederverheiratung der Mutter keine allzu große Rolle gespielt haben. Eher wahrscheinlich ist, daß sich seine Mutter wie Madame Désableu "eine Nachkommenschaft von Beamten wünscht, den Familien nacheifern möchte, [...] deren gesamter Nachwuchs sich in unabsehbarer Folge auf demselben Sessel ablöst, Familien, die in schmutzigem Elend leben und sterben, ohne auch nur den Versuch unternommen zu haben, daraus auszubrechen."

Diesen Versuch unternimmt Huysmans, indem er neben seinem Posten als kleiner Ministerialbeamter Literatur zu studieren beginnt und als 26jähriger mit dem Prosa-Gedichtband "Le Drageoir aux épices" (dt.: "Die Gewürzdose") als Autor debütiert. Zwei Jahre später, also 1876, lernt er Émile Zola kennen und schließt sich dessen Kreis an. Aus dieser naturalistischen Phase gehen neben anderen Werken 1881 auch die "Trugbilder" (frz.: "En ménage") hervor.

Huysmans ist mittlerweile 33 Jahre alt und bereits erfahren in der Bewältigung diverser "Weiberrockkrisen", die er in der Figur des André in allen Facetten schildert. Da nützt es gar nichts, daß dem Protagonisten das dienstbeflissene Hausmädchen Melanie alle Alltagssorgen abnimmt - die plötzliche Freiheit belastet ihn nur. Von diversen Ausflügen in die Halbwelt kommt er angeekelt in ein leeres Zuhause zurück, in dem es ihm immer unmöglicher wird, zu schreiben oder auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Das Wiederauftauchen der Langzeitgeliebten Jeanne verschafft ihm eine romantische Atempause; für sie allerdings ist André nur eine Zwischenlösung. Nachdem sie gegangen ist, bleibt wieder einmal nur der treue Cyprien, dem es obliegt, den zweifelnden und verzweifelnden Freund aufzufangen.

Mit meisterlicher Beobachtungsgabe entwirft der Autor ein "fraktales" Erzählmuster, das sich von der allgemeinen politischen Situation und der Ernüchterung eines perspektivenlosen Bürgertums über den zur Gebrauchskunst verkommenen künstlerischen Schaffensprozeß bis hin zur individuellen Beziehungsfähigkeit immer mehr verfeinert, dabei aber ein ständig wiederkehrendes Bild des persönlichen und emotionalen Scheiterns zeigt. Besonders drastisch und schonungslos zeichnet Huysmans dieses Dilemma anhand der Frauengestalten, die als Proponentinnen des geknebelten Liberalismus in einem Spannungsfeld von entrechtender Ehe und der entwürdigender Prostitution zu agieren gezwungen sind. Ganz in der Tradition eines naturalistischen Pragmatismus zeigt der Schriftsteller zwei den Temperamenten der beiden Hauptfiguren entsprechende Möglichkeiten eines "Lebens zu zweit" (so ein alternativer eingedeutschter Werktitel) auf.

André, immer etwas zögerlich und furchtsam, zieht sich letztendlich ins Biedermeier-Idyll der bürgerlichen Ehe zurück. Cyprien wiederum holt sich eine dickliche, aber herzensgute Nutte, eine Allegorie der doppelt geprügelten "kleinen" Leute des Arbeiterstandes, ins Haus und lebt mit ihr unter Inkaufnahme gesellschaftlicher Ächtung, ständig die Adresse wechselnd, im Konkubinat. "Was für ein Ideal!" seufzt André. "Ach, komm", entgegnet ihm der Freund. "Dieses oder ein anderes ..."

Ein anderes Ideal gelingt Huysmans tatsächlich, obwohl eher unabsichtlich mit dem 1884 veröffentlichten "À rebours" (dt.: "Gegen den Strich"). Oskar Wilde zeigt sich begeistert von dieser "Bibel der Dekadenz", Stéphane Mallarmé feiert "À rebours" als DEN Vorläufer des französischen Symbolismus. Aufgeschreckt durch diese Bedeutsamkeit, flüchtet der auf diese Weise Geehrte in die Frömmigkeit der Laienbruderschaft und beschreibt diese Entwicklung in einer Tetralogie, die er 1903 mit dem Roman "L´Oblat" (dt.: "Der Laienbruder") beendet.

Joris-Karl Huysmans stirbt 1907 mit 59 Jahren in Paris - zu einer Zeit, als Bürgertum und Arbeiterschaft beginnen, sich erneut zu formieren. Und das Rad dreht sich weiter ...

Claudia Jusits

Joris-Karl Huysmans - Trugbilder

ØØØØØ

(Én ménage)


edition manholt im dtv

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