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Schmauchspuren #46

Nekrophilie durch die Kameralinse, supercoole Dopedealer und ihre bösartigen Althippie-Vorfahren, ein verzwergter Berufsmörder und ein lakonischer Undercover-Ermittler. Wenn einem soviel Gutes widerfährt, ist das eine Kolumne wert - meint Krimiprofi Peter Hiess.    16.10.2015

Peter Hiess

Craig Robertson - Snapshot

Heyne Tb. 2012

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In der einschlägigen Literatur darf ja bei Mordfällen wirklich schon jeder mitermitteln: Privat- und Amateurdetektive, Anwälte, Knochenexperten, die Sekretärin des Kommissars, Krimiautoren und sogar die Oma des Täters. Craig Robertson, hauptberuflich Journalist, präsentiert in "Snapshot" eine neue Protagonistenvariante: den Tatortphotographen. Sein Krimiheld Michael Winter ist auf ungesunde Weise vom Tod fasziniert und hat sogar in seiner Freizeit nichts Besseres zu tun, als Leichen zu knipsen, ihre erstaunten Gesichter im Augenblick des Todes abzulichten und die Reaktion der Umstehenden mit der Kamera einzufangen.

Dahinter steckt natürlich ein Trauma, wie das in Krimis seit einiger Zeit fast Pflicht ist - aber sobald der Autor diesen Schmafu hinter sich gebracht hat, wird die Story um den Vigilanten, der die Drogendealer von Glasgow auslöscht und sich damit den Beifall der Medien sichert, ganz spannend. So wie das Porträt der schottischen Stadt, die scheinbar nur aus Schlägern, Alkoholikern, Kriminellen und verhärmten Kreaturen zu bestehen scheint. Und aus einem vergessenen Untergrund, in dem sich einige der nervenzerreißendsten Szenen von Robertsons Roman abspielen. Kann so weitergehen - aber bitte nächstes Mal ohne die Billig-Psychoanalyse.

Robert Silverberg - Blood on the Mink

Hard Case Crime (Titan Books) 2012

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Ohne die kommt der US-Autor Robert Silverberg, 1935 geboren und vor allem für seine preisgekrönte Science Fiction bekannt, in "Blood on the Mink" problemlos aus. Und damit haben Fans der Reihe Hard Case Crime auch einen Grund zu feiern: Silverbergs seit 50 Jahren erstmals nachgedruckter Thriller zeigt, daß die Serie immer noch weiß, was sie will - und soll. Bester Pulp, auf 150 flotten Seiten und mit einem Nachwort des Autors versehen, das die damalige Situation der amerikanischen "Schmutz und Schund"-Variante beleuchtet. Der Roman berichtet von einem Undercover-Agenten, der sich in der Maske eines Westcoast-Gangsters auf die Spur von Geldfälschern setzt, eine Bande gegen die andere ausspielt, die Femme fatale erst ins Bett kriegt und dann als Sterbende in den Armen hält - und sich am Ende in Washington den nächsten Auftrag holt. Zwei Pulp-Magazin-Kurzgeschichten Silverbergs runden die Veröffentlichung ab; man kann sich nur wünschen, daß es bei Hard Case so erfreulich weitergeht.

Bestes Zitat übrigens: "With the unerring instincts of the natural-born cretin, he tuned in an all-night rock-and-roll station on the first try."

Don Winslow - Kings of Cool

Suhrkamp 2012

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Don Winslow, mittlerweile anerkannter Krimi-Weltmeister und auch in Deutschland auf den Bestsellerlisten, liefert in seinen Büchern ebenfalls Zitierenswertes. In "King of Cool", dem Prequel zu dem von Oliver Stone verfilmten Drogenthriller "Zeit des Zorns", ist es etwa der scherzhafte Spruch eines der Protagonisten, daß man im scheißliberalen Kalifornien doch bitte KZs für alle Weißen bauen soll, die Dreadlocks tragen ... wahrlich, ein König der Coolness. Doch Winslow ist keiner, der sich unnötig diverser Zitate und Versatzstücke aus der Popkultur bedient. Er macht stattdessen Popkultur und erzählt in Kürzestkapiteln die Geschichte der Marihuana-Dealer Ben und Chon und ihrer gemeinsamen Freundin Ophelia: Surferkultur, die Sünden der Väter (und Mütter), das totale Scheitern der Hippiebewegung. Aber man bleibt trotzdem cool. Es wird ja für niemanden leichter ...

John Katzenbach - Der Wolf

Droemer 2012

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John Katzenbach, dessen erste Psycho/Psychiater-Thriller ("Die Anstalt", "Der Patient" usw.) ja noch ganz gut funktionierten, macht es sich allerdings viel zu leicht. Sein neues Machwerk "Der Wolf" handelt nämlich (immer noch?!) von einem Serienmörder, der sich drei rothaarige Frauen als Opfer aussucht, bei denen er den bösen Wolf spielen will. Die Damen tun sich natürlich gegen ihn zusammen, der Mörder ist schlau und berechnend - und alle Figuren zusammen sind so hirnrissig, unglaubwürdig und uninteressant, daß man das Buch nach 150 Seiten weglegt und es erstaunt fragt: "Cover, warum hast du so blaue Haare?" Aber auch darauf kriegt man keine vernünftige Antwort.

Jim Thompson - In die finstere Nacht

Heyne Hardcore Tb. 2012

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Halten wir uns lieber an die alten Meister des Pulp-Genres. An Jim Thompson zum Beispiel, von dem sogar die schwächeren Romane besser sind als vieles, was heute so auf den Markt kommt. "In die finstere Nacht" ("Savage Night"), geschrieben 1953 und jetzt erstmals auf deutsch erschienen, ist keines seiner Meisterwerke, was den Plot betrifft, aber wegen der grusligen Psyche des Protagonisten immer noch mehr als lesenswert: Zwergenhafter Profikiller, todkrank und schwer paranoid, nimmt einen letzten Job an und geht ein Verhältnis mit einer verkrüppelten Frau ein. Das Resultat: Irrsinn und viel Blut. Aber ganz ehrlich, Heyne-Verlag: "kleinwüchsig" und "körperlich entstellt" hätte Thompson damals nie gesagt. Deswegen war er ja so gut.

"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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