Hans Gerhold - Kino der Blicke
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Erinnern Sie sich noch an all die wunderbare Filmgenre-Literatur, die es während der 80er Jahre auf dem deutschen Büchermarkt zu entdecken gab - fernab von G´scheiterl-Publikationen oder Spezialisten-Schriftwerken? Martin Compart hat in seinen Regalen gestöbert und präsentiert Hans Gerholds Buch über den französischen Kriminalfilm. 11.03.2013
Ja, ich weiß: Dies ist ein Sachbuch und kein Roman. Und? Ich kenne fiktionale Thriller, die sind stinklangweilig, und ich kenne Sachbücher, die man nicht mehr aus der Hand legen kann und Angst vor der letzten Seite hat. Hans Gerholds Geschichte des französischen Kriminalfilms gehört zu letzteren. Es ist eines der fünf besten Filmbücher, die ich je gelesen habe - vielleicht sogar das aufregendste. Gerhold hat leider nur wenige Bücher geschrieben (darunter das wohl schönste Buch über Woody Allen), verfaßt regelmäßig Kritiken (die "Westfälischen Nachrichten" sollte man schon seinetwegen abonnieren), liefert Beiträge für Anthologien ab und hält Vorlesungen. Aber es sind zu wenige für die kleine, aber anspruchsvolle Gemeinde seiner Fans. Wäre die deutsche Journaille weniger verkommen, würde man ihn abfeiern wie die Amerikaner ihren David Thomas. Wir haben ja zum Glück einige gute Filmkritiker, aber Gerhold ist ganz klar die Nummer eins. Kein anderer schreibt so unterhaltsam und gleichzeitig analytisch wie er.
Hans Gerhold, der ganz richtig einen offenen Gattungsbegriff als Ansatz wählt, hat mit Kino der Blicke nicht nur das beste Buch zur Entwicklung des Sujets geschrieben, sondern auch eine sozio-kulturelle Geschichte Frankreichs: "... daß die wichtigsten Beispiele des polar stets auch typische Produktionen gewesen sind, die soziale Veränderungen und Entwicklungen transparent machen und, bei aller Relativierung, Zeitdokumente sind". Wie brillant er als Theoretiker und Rhetoriker ist, zeigt schon die Titelwahl der Einführung, in der er seine Vorgehensweise verdeutlicht: "Wahl der Waffen".
Um dieses Buch beneiden uns die Franzosen, denn nicht einmal sie haben ein intelligenteres und spannenderes zum Thema. Gerhold berücksichtigt natürlich auch die literarischen Einflüsse und nennt Autoren, die viel zu oft nicht gewürdigt werden (jedenfalls im kulturell verspäteten Deutschland), etwa Alphonse Boudard. Es sind die vielen unterschiedlichen Ebenen, die das Werk zum Musterbeispiel der Filmtheorie machen.
Das Buch erschien 1989 (Fischer Taschenbuch) und wurde seitdem nicht mehr aktualisiert oder neu aufgelegt - ein weiteres Indiz für den erbärmlichen Zustand der Verlage, die bei uns Filmliteratur im wahrsten Sinne des Wortes "verlegen". Es zeigt wohl, wie genügsam sie in einer Ära reduzierter Erwartungen bei geistiger Nahrung sind.
Ich kenne Gerholds Schreibe seit dem legendären Hanser-Buch über Melville (1982). Es war neben Nogueiras Interviewband mit dem Meister Quell und Inspiration für andauernde Diskussionen zwischen Jörg Fauser und mir. Fauser war ebenfalls ein Aficionado des französischen Gangsterfilms, und wir sahen uns jeden an, den wir nur zu sehen bekommen konnten (bei "Le Choc", nach Manchette, haben wir damals brüllend vor Wut das Kino verlassen, als Catherine Deneuve ihren ersten Auftritt hatte, in Gummistiefeln Gänse fütternd). Sätze wie "wie Gerhold richtig bemerkte", fielen fast an jedem Tresen, den Jörg und ich bei unseren alkoholisierten Reisen durch die Nacht adelten.
Ich habe Hans erst Ende der 1990er Jahre kennengelernt: Wir waren beide Juroren in einer Jury des Grimme-Preises (nicht um Auszeichnungswürdiges zu finden, sonder um das Schlimmste zu verhindern). Ich hatte schweißnasse Hände vor der ersten Begegnung, wie man sie nur hat, wenn man nach Jahren der Bewunderung einem Idol wie Mick Jagger oder Hunter S. Thompson gegenübertritt. Durch permanentes Nerven gelang es mir sogar, ihn zur Mitarbeit an meinen Noir-Readern zu nötigen.
Zum Glück kann man "Kino der Blicke" noch antiquarisch auftreiben. Ich selbst habe drei Ausgaben: eine zerlesene, mit Unterstreichungen mißhandelte Loseblattsammlung, eine zur wiederholten Lektüre (man findet immer wieder Neues) und ein jungfräuliches Exemplar für alle Fälle. Aber es ist schon verdammt ärgerlich, daß dieses Buch nicht - wie gesagt: aktualisiert - als fett bebildeter, großformatiger Luxusband neu aufgelegt wird. Wo bleibt eigentlich der Taschen-Verlag, wenn man ihn braucht?
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Kommentare_
Wobei man ja ebenfalls sagen muß (ich bin auch süchtig nach jeder Art von Genreliteratur) dass die zwei Noir-Reader von Herrn Compart selbst zu den Sahnestücken einer jeden Hardboiled-Sammlung gehören! Und auch im Kindle-Zeitalter gibt es da was sehr schönes von ihm: "Paint it Black - Über Noir Fiction", ein Mammutwerk zum Spottpreis von 5 Euro. Sollte man unbedingt auf dem Reader haben.