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Schmauchspuren #47

Die Monster sind unter uns - diesmal im wahrsten Sinne des Wortes. Was Krimiexperte Peter Hiess noch entdeckt hat: eine neue deutsche Krimireihe mit hoffentlich viel Zukunft, eine wunderbare Pulp-Reminiszenz und etwas antipodische Langeweile.    02.11.2015

Peter Hiess

Scott Sigler - Die Verborgenen

Heyne Tb. 2012

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Als Krimifreund stellt man sich die Unterwelt anders vor - nicht voll entstellter Mutantenwesen, die in vergessenen Kavernen irgendwo unter der Stadt eine kannibalische Existenz führen. Aber genau das macht den Reiz von "Die Verborgenen", dem neuen Werk von Scott Sigler (der durch den ersten Podcast-Exklusivroman "EarthCore" weltbekannt wurde), ja aus. Schließlich kennt man die üblichen Detektive, Agenten und Femmes fatales ohnehin viel zu gut ...

Als Identifikationsfigur bietet der Autor dem Leser immerhin zwei Polizisten an: den traumatisierten, düsteren Bryan Clauser und dessen ebenso exzentrischen wie witzigen Partner Pookie Chang. Die beiden werden zum Tatort eines besonders grausamen Mordes in San Francisco gerufen, an dem ihnen mysteriöse Ritualzeichen und ein seltsamer Geruch auffallen. Überraschenderweise zieht die Polizeichefin das Duo aber von dem Fall ab, obwohl die Mordserie nicht abreißt. Noch dazu merkt Clauser, daß er sich körperlich zu verändern beginnt.

Spannungsautor Sigler bedient sich in seinem fast 900 Seiten starken Mystery-Thriller/Abenteuerroman zwar ordentlich bei Clive Barkers Monster-Underground aus "Cabal" ("Nightbreed"), erzählt seine Geschichte über einen Nebenzweig der Evolution aber immerhin trotz anfänglicher Längen und Verwirrungen so gekonnt, daß man ihm gern in die Tiefe folgt. Eine willkommene Abwechslung zum Genre-Einerlei.

Links:

Gemischtes Doppel


Michael Slade - Der Kopfjäger

Festa Pb. 2012

 

Dan Simmons - Eiskalt erwischt

Festa Pb. 2012

 

Die nächste lobenswerte Alternative zum Krimialltag ist eine Reihe, die uns in dieser Kolumne ebenfalls begleiten wird (wie schon Hard Case Crime, siehe unten). Verleger Frank Festa, der sich seit 2001 vor allem phantastischer Genre-Literatur annimmt, erweitert sein Programm nun mit Festa Crime um richtig harte Thriller, über die sich bisher kein deutscher Verlag getraut hat - wenigstens nicht für länger.

An den Romanen von Michael Slade versuchte sich beispielsweise in den Achtzigern der Goldmann-Verlag, bevor er Probleme mit der Zensur bekam. Bei der Lektüre von "Der Kopfjäger", dem ersten "Special X-"Thriller des kanadischen Autorenteams, versteht man auch, warum die Nerven der Jugendschützer damals so überbeansprucht waren. Superintendent Robert DeClercq, Leiter einer auf Serienmörder und okkulte Verbrechen spezialisierten Einheit der Mounties, hat es nämlich hier mit einem Killer zu tun, der schöne Frauen umbringt und ihnen die Köpfe abschneidet. Slade durchreist die Abgründe der Perversion, begleitet den Leser in die Voodoo-Szene von New Orleans, läßt seinen Helden unwahrscheinlich leiden und bietet insgesamt genau das, was man von einem guten Serial-Killer-Krimi (ja, es gibt auch gute!) erwartet. 16 "Special X"-Bände sollen noch folgen; wir freuen uns darauf.

So wie auch auf die Joe-Kurtz-Reihe des in vielen literarischen Sparten wie SF und Fantasy bewanderten Dan Simmons, der schon im ersten Band "Eiskalt erwischt" den wohl härtesten und brutalsten Privatdetektiv seit Spillane durch eine rasante Story hetzt: Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis verspricht Kurtz einem abgehalfterten Mafiaboß, die Verräter in den eigenen Reihen zu finden, und sticht damit ins sprichwörtliche Wespennest: Gewalt, tiefer Winter, böse Blessuren und die Niagara-Fälle. Wenn einer all das überlebt, darf man auf die Fortsetzungen gespannt sein.

Links:

Joseph Koenig - False Negative

Hard Case Crime (Titan Books) 2012

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Die erwähnte Hard-Case-Reihe scheint sich nach ihrem Wechsel zum britischen Verlag Titan Books programmatisch wieder erfangen zu haben, wie man an Joseph Koenigs höchst erfreulichem Roman "False Negative" sieht. Der schwer unterschätzte Noir-Autor ("Little Odessa") liefert hier eine in den 50er Jahren zwischen Atlantic City und New York spielende Liebeserklärung an die Zunft der Kriminalreporter und klassischen True-Crime-Autoren, inklusive einer Serie von Model-Morden und einer wirklich sexy Liebesgeschichte. Und das völlig ohne ironisch-blödes "Augenzwinkern" ...

Links:

Garry Disher - Rostmond

Unionsverlag/Metro Tb. 2012

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Dem Australier Garry Disher, der einst mit seinen Krimis um den Berufsverbrecher Wyatt gute Arbeit lieferte, mangelt es nicht erst in seinem neuen Roman "Rostmond" an Ironie, sondern generell an jeglichem Humor oder Gefühl für Spannung. Der ohnehin schon öde Inspektor Challis von der Polizeitruppe des Provinzstädtchens Waterloo soll den Überfall auf einen Kaplan und den Mord an einer Bauinspektorin (gähn!) aufklären. Statt einen interessanten Fall zu schildern, strapazieren der Autor und seine Figuren aber lieber sämtliche politisch korrekten Klischees für die Leser von Qualitätszeitungen: Pfarrer sind pfui und schänden Kinder; konservative Politiker sind pfui und mögen keine Migranten; Männer sind generell pfui, weil durchwegs potentielle Vergewaltiger usw. usf. Das freut vielleicht die vertrocknete Feministinnen-Selbsterfahrungsgruppe von nebenan, ist aber ansonsten gar nichts wert - sondern einfach down und under.

Links:

"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Links:

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