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Schmauchspuren #35

Wenn Sie nicht gerade in die - wie immer gelungene und ästhetisch ansprechende - Diogenes-Neuausgabe der Krimis von Dashiell Hammett vertieft sind, greifen Sie doch zu neuem Spannungsmaterial. Das Genre ist schließlich stets für Überraschungen gut, ob aus New York oder der Steiermark.    17.09.2014

Peter Hiess

Daniel Woodrell - Winters Knochen

Liebeskind 2011

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Daniel Woodrell nennt seinen Stil "Country noir" - besser, man erfindet so eine Schublade selbst, bevor irgendwelche Kritiker es tun. Die meisten seiner bisher acht Romane spielen in den Ozarks, einem hügeligen Hochplateau, das sich vor allem über die Bundesstaaten Arkansas und Missouri erstreckt. Da Woodrell selbst von dort stammt, versteht er es wie kein zweiter, die Existenz der Einwohner dieser Region zu beschreiben. Sie sind "white trash", oft arbeitslos und verarmt, weit verstreute Familienclans, die häufig von Speedkochen, Drogenhandel und Bagatelldelikten leben. Damit fallen die Bücher des Autors wohl automatisch ins Krimigenre, obwohl sie Thriller-Plots oft nur am Rande streifen. Wie etwa Winters Knochen, sein aktuelles Meisterwerk, dessen Verfilmung heuer nur knapp an ein paar Oscars vorbeiging.

Der Roman erzählt die Geschichte der 17jährigen Ree Dolly, die für ihre Familie sorgt, da der Vater meist im Gefängnis ist. Jetzt ist der "Ernährer" überhaupt verschwunden und hat das Haus der Dollys für seine Kaution versetzt. Ree muß ihn finden, wenn sie, ihre geisteskranke Mutter und die zwei kleinen Brüder nicht auf der Straße landen wollen. Wie sie stur und unbeirrbar durch die eiskalten Ozarks zieht, mit gefährlichen Männern und noch gefährlicheren Frauen (alles entfernte Verwandte natürlich) zu tun bekommt und beim Aufdecken eines dunklen Geheimnisses selbst nur knapp am Tod vorbeigeht, das macht Woodrells Werk zu einem der besten Bücher der Saison, ob Krimi oder nicht - und Ree zu einer der faszinierendsten Figuren, die man als Leser in letzter Zeit kennenlernen durfte. Unbedingte Empfehlung.

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Claudia Rossbacher - Steirerblut

Gmeiner 2011

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Die Heldin von Claudia Rossbachers aktuellem Lokalkrimi Steirerblut kommt da schon viel "normaler" daher: Inspektorin Sandra Mohr vom Landeskriminalamt Graz ist auf den ersten Blick eine typisch österreichische Polizistin, die bei ihren Recherchen über die dunklen Seiten der Provinz ohne hypermoderne Ermittlungsmethoden à la CSI auskommen muß. Als es sie wegen eines ungewöhnlichen Mordfalls - eine Journalistin und Frau eines Immobiliengauners wird nackt und tot im Wald aufgefunden - ausgerechnet in ihr Heimatdorf verschlägt, stellt sich Interessantes über sie heraus. Zwischen zynisch-geilen Kollegen, der Dorfwirtshaus-Unkultur, ihrer schrecklichen Familie und dem Exfreund entpuppt sich Sandra nämlich als ziemliche Tussi, der nichts recht ist, die über vieles nicht reden oder nachdenken will und sich daher bei den eigenen Nachforschungen im Weg steht. Sonst hätte sie wohl (wie der geübte Leser) den Täter gleich beim ersten Auftritt entlarvt ... Nennen wir es Realismus.

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Gregg Hurwitz - Tödlicher Fehler

Droemer Pb. 2011

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Den Vorwurf, nahe an der Realität zu bleiben, kann man dem US-Krimischreiber Gregg Hurwitz wahrlich nicht machen. Mit Tödlicher Fehler ist ihm zwar ein leidlich spannender Paranoia-Thriller gelungen, der sich schnell konsumieren läßt, aber so richtig hängenbleiben will die Story nicht: Nick Horrigan ist auch zehn Jahre nach der Ermordung seines Stiefvaters noch traumatisiert und von Schuldgefühlen geplagt, als er eines Nachts von einem Polizei-Sondereinsatzteam in seiner eigenen Wohnung überfallen und im Pyjama in ein Atomkraftwerk befördert wird, wo er einen angeblichen Terroristen zur Aufgabe bewegen soll. Als der durch ein explodierendes Handy stirbt, gibt Nick natürlich nicht auf: Er will wissen, was hinter der Affäre steckt, was damals wirklich mit seinem Stiefvater passiert ist, wie zwei Präsidentschaftskandidaten in die Sache verwickelt sind ... und schon finden wir uns mitten im amerikanischen Fernsehkrimi-Terrain wieder, wo die Verbrechen immer viel zu kompliziert, die Personen sagenhaft überzeichnet und die Motive hirnrissig sind. Als Entertainment funktioniert´s, aber das ist dann auch schon alles.

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Johnny Porkpie - The Corpse Wore Pasties

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

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Eines der letzten Bücher der insgesamt überdurchschnittlich guten Reihe Hard Case Crime kann allerdings nicht einmal von sich behaupten, unterhaltsam zu sein. Jonny Porkpie, ein Typ mit einem komischen Hut und angeblich der "Burlesque Mayor of New York" (haha, wie heiter - dabei weiß man doch, daß diese modische Varieté-Erweckungsbewegung zum Großteil aus gruftigen Suicide Girls besteht, die nicht einmal strippen können ...) fungiert als Verfasser von The Corpse Wore Pasties. Und liefert ein Machwerk, das nicht origineller ist als sein Titel, aber dafür vor jener widerlichen Hornbrillen-Ironie strotzt, der man heutzutage leider auf Schritt und Tritt begegnet. Der Fall: Burlesque-Tänzerin wird während der Show ermordet. Der Ermittler: Porkpie als Porkpie. Die Sprüche: sollen cool und witzig sein, wirken aber ab etwa Seite zwei nur noch peinlich. Das Personal: etwa so erotisch wie die Mitternachtseinlage am Internationalen Frauentag. Der Täter: Wen interessiert´s? Der erste Hard-Case-Krimi, den der Autor dieser Kolumne nicht fertiggelesen hat. Das sagt alles.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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