Print_Antonin Varenne - Die sieben Leben des Arthur Bowman

Verlorener Verlierer

Daß selbst im Zeitalter von "Dexter", "Hannibal" und Konsorten noch ein Autor mit Serienkiller-Fiction begeistern kann, zeigt der Franzose Antonin Varenne mit seinem neuen Roman. Martin Compart hat ihn gelesen.    30.06.2015

Es gibt wohl kein ausgelutschteres kriminalliterarisches Subgenre als die Serienkiller-Geschichte. Nach dem kommerziellen Erfolg von Thomas Harris (und dem literarischen einiger anderer Autoren) brach Ende der 1980er Jahre eine anhaltende Flut an unerhörten Dämlichkeiten über den unschuldigen Leser herein, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen sucht und bis heute ihr debiles Publikum findet. Manchmal weiß man nicht, wer schlimmer ist: die realen Soziopathen, die ihren Beitrag gegen die Überbevölkerung leisten, oder die geradezu schwachsinnigen Serienkillerschreiber, die ihren Realitätsverlust und ihre Phantasielosigkeit durch Geldgier ausgleichen.

 

 

Umso beeindruckender, wenn es alle paar Jahre mal wieder einen Autor gibt, dem es gelingt, dieses Thema neu, überzeugend und originell zu gestalten. Genau das schafft Antonin Varenne, der neue Star der französischen Noir-Kultur, mit seinem fünften Roman "Die sieben Leben des Arthur Bowman" (C. Bertelsmann), in dem verschiedene Genres auf nie gekannte Weise zusammengepackt sind.

Die schlichte Rezeption zu "Fakire" (Ullstein, die mal wieder nicht durchgehalten haben), dem neben "Die sieben Leben des Arthur Bowman" bisher einzigen ins Deutsche übersetzten Roman von Varenne, verlangt danach, Jonathan Swift zu zitieren:

"Wenn ein wirklich großer Geist in der Welt erscheint, kann man ihn untrüglich daran erkennen, daß sich alle Dummköpfe gegen ihn verbünden."

 

Der geringe Erfolg von "Fakire" bei uns - was sicherlich der Grund für Ullstein war, diesen Autor nicht weiter zu veröffentlichen - verdeutlicht einmal mehr die kulturelle Verspätung teutonischer Buchkunden, die Dante Alighieri für Heidi Klums Couturier halten und die Bestsellerlisten zu literarischen Müllkippen gestalten.

Sogar die Angelsachsen haben Varennes Bedeutung für die zeitgenössische Noir-Literatur erkannt und übersetzen sein Werk, das die Reklame der Dichter nicht mehr nötig hat. In seinen Romanen kommt außer stilistischen Strahlen nie Licht rein, und die Leute sehen fast alle fürchterlich aus. Hier fährt der ganze Planet endgültig zur Hölle - und man möchte ihm bei der Abreise noch helfen.

Antonin Varennes Figuren sind höchst aktuell: Es sind die Kaputten, die sich im Dienste der Mächtigen oder ihrer Institutionen aufgebraucht haben und als Wracks weggeworfen werden. Es sind wütende oder ausgebrannte , sich betäubende, unkontrollierbare menschliche Hülsen, die asozial vor sich hinvegetieren, bis sie mehr oder weniger in eine Aufgabe hineinstolpern, die ihrer überflüssigen Existenz vielleicht Sinn verleiht. Sie haben eine miese Vergangenheit, eine gruselige Gegenwart und eine fürchterliche Zukunft (wenn überhaupt). Es sind Charaktere von nächtlicher Schwermut und finsterer Niedergeschlagenheit, die den banalen Leser zutiefst verstören.

Arthur Bowman ist so eine ausgebrannte, fast seelenlose Hülle. Er hatte sich einst in den Dienst der East India Company gestellt, da nichts anderes für ihn möglich war. Durch Todesverachtung und Brutalität hat er sich bis zum Sergeant hochgedient und für die Aktieninhaber gemordet, geplündert und erobert. Bis zum Sepoy-Aufstand (als sie von der Krone übernommen wurde) war die britische Ostindien-Kompanie der größte Konzern und die wichtigste Aktiengesellschaft der Welt. Bowman ist bewußt, "daß die weit ausgestreckten Arme der stolzen Kompanie schmutzige Hände wie die seinen gebraucht hatten, um ihre Reichtümer anzuhäufen”. Er ist ein wirklich kaputter Noir-Held, der vielleicht Empathie auslöst, aber keine Sympathie - eben eine Figur, die kaum ein anderer Autor als Varenne so überzeugend lebendig werden lassen kann. Dagegen springen David Goodis´ Loser wie Gene Kelly singend durch den Regen.

 

Der Roman beginnt 1852 in Burma. Sergeant Bowman soll zu Beginn des zweiten Burma-Feldzugs eine Geheimmission durchführen, da die Burmesen ihre Reichtümer egoistischerweise nicht John Company überlassen wollen. Die Mission, die ihn in den feuchten, beklemmenden Dschungel Hinterindiens führt, geht gründlich schief, und Bowman und seine Männer fallen in die Hände des Feindes. Ein Jahr Gefangenschaft und Folter brechen sogar den harten Sergeant. Varennes Hinterindien ist deprimierender als das von Joseph Conrad; eine Hölle, die dem Westler Albträume gebiert, "wegen all dem, was er gesehen hat. Wegen dem, was man ihm angetan hat, oder auch wegen dem, was er selber getan hat." Es ist völlig egal, ob man die grobe Struktur der Handlung durch den Klappentext erfährt oder nicht - Varennes beängstigende literarische Fähigkeiten sind so stark, daß man die Handlung voller Spannung verfolgt. Für ihn gilt ein Satz, den André Gide einmal über Dashiell Hammett gesagt hat: "Er schreibt Szenen, die niemals zuvor geschrieben wurden." Außerdem kann er die höchst unterschiedlichen Schauplätze atmosphärisch atmen lassen.

Sechs Jahre später ist das Wrack Bowman in London gelandet, wo er im Gnadenbrot der Company seine elende Existenz als Polizist in den Docklands fristet. Von Opium und Alkohol zerstört, torkelt er während einer Cholera-Epidemie durch die Stadt. Diese Beschreibungen des vertrocknend stinkenden London gehören zu den beklemmenden Höhepunkten des Romans, die man nicht mehr aus dem Hirn bekommt.

Als endlich der Regen kommt, um die Stadt sintflutartig reinzuwaschen, findet Bowman in einem Abwasserkanal eine Leiche. Der Tote ist furchtbar verstümmelt - auf eine Weise, die Bowman unter der Folter in Burma erfahren hat. Der Killer kann also nur einer der zehn Überlebenden sein, der mit ihm die burmesische Gefangenschaft überlebt hat. Um die eigenen Dämonen zu bezwingen, beginnt er die Fahndung nach ihm, die Bowman bis in den Wilden Westen führt, unter Goldsucher, Sklaven und Indianer, immer auf der Spur weiterer bestialisch zugerichteter Leichen. Bowmans Quest ist nicht nur die Verfolgung des Mörders, sondern auch eine Odyssee des Überlebens und ein episches historisch-soziologisches Fresko von Wucht und innerer Tiefe. Ganz nebenbei zeigt der Roman, was Folter aus den Menschen macht, wie sie für den Rest ihres Lebens als gequälte Kreaturen kaum noch ihre Persönlichkeit bewahren können. Varenne läßt keinen Zweifel daran, daß Folter nur einen Zweck hat: den kranken Sadismus kranker Menschen zu befriedigen. Auch wenn lächerliche Vereine wie die CIA als Schutzbehauptung vorschieben, es ginge ihnen um das Erlangen von Informationen. Was sollen das wohl für Informationen sein, wenn man dafür Menschen über Jahre foltert?

 

Varenne wurde 1973 geboren. Seine Eltern führten ein rastloses Leben und zogen mit ihm durch Frankreich; einige Zeit lebten sie auf einem Segelboot. Er studierte Philosophie in Nanterre und schrieb seine Abschlußdissertation über Machiavelli. Danach führten ihn Jobs als Gebäudekletterer oder Zimmermann um die Welt: Indonesien, Island, Mexiko, schließlich in die USA, wo er seine Frau kennenlernte. Er legte verdientes Geld zurück und schrieb dort seinen ersten Roman: "Le Fruit De Vos Entrailles", der 2006 veröffentlicht wurde. Daraufhin kehrte er mit seiner Frau, Kind und seinem mexikanischen Hund nach Frankreich zurück und ließ sich im Département Creuse nieder. 2008 folgte der Roman "Le Gateau Mexicain". Der große Durchbruch kam dann 2009 mit "Fakirs", der mit zwei Preisen für Kriminalliteratur ausgezeichnet wurde und ihn als den wahrscheinlich originellsten französischen Noir-Autor seit Manchette etablierte. Dies bestätigte 2011 sein Noir-Roman "Le Mur, Le Kabyle Et Le Marin": ein Meisterwerk, das die Schrecken des Algerienkriegs mit dem Horror der Gegenwart verknüpft und ihm weitere Literaturpreise einbrachte.

Nach diesen düsteren Büchern wollte er zum Spaß einen Western schreiben. Heraus kam das hier vorliegende Buch, das ihm nicht minder "noir” geraten ist, auch wenn er verschiedene Genres - historischer Abenteuerroman, Detektivroman, Sittenbild, Thriller und Western - zu etwas völlig Eigenständigem verbunden hat. Die Filmrechte an "Fakire" sind inzwischen verkauft, und man hat Varenne angeboten, eine Fernsehserie zu entwickeln. Aber das interessiert ihn nicht, weil er selbst auch ein höchst anspruchsvoller Leser ist. Einen der letzten Romane von Ellroy hat er nach halber Lektüre wütend an die Wand geworfen. Für mich ist das gut nachvollziehbar - der Unterschied zwischen einem Bluffer und einem Nihilisten.

 

PS: Wer sich vielleicht an die Bücher von Richard Laymon und Walter Satterthwait über die Jagd auf Jack the Ripper durch den Wilden Westen erinnert fühlt, sei beruhigt: Varenne ist eine ganz andere Klasse (wobei ihre beiden Romane durchaus Spaß machen)!

Martin Compart

Antonin Varenne - Die sieben Leben des Arthur Bowman

ØØØØ

(Trois mille chevaux vapeur)

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C. Bertelsmann (D 2015)

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