Grafenegger Konzerte 2019
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Photo Stepháne Denève: © SWR
Photo Valery Gergiev: © Bernhard Buerklinc
Photo Tugan Sokhiev: © Mat Hennek
Der EVOLVER-Klassikexperte ist seit Anbeginn ein begeisterter und treuer Besucher der Grafenegger Konzerte. Lesen Sie, wie die drei Wochen(enden) des heurigen Sommers musikalisch verlaufen sind. 09.10.2019
Es ist bewundernswert, was Rudolf Buchbinder 2019 gezaubert hat - und wie er bis heute ein großartiges und festspielreifes Niveau erreicht. Natürlich sind aber auch die Grafenegger Manager vom permanenten Einsparungswahn betroffen, was man bei den Aufführungen heuer schon deutlich bemerkt hat. Trotzdem waren einige "Gustostückerln" dabei.
Woche 1:
Die eigentlich hervorragende Geigerin Sarah Chang lieferte beim Eröffnungskonzert des Festivals 2019 in Grafenegg den Beweis, warum Vivaldis "Jahreszeiten" unbedingt von einem Dirigenten geleitet werden sollten. Die vier Concerti sind für die Violinisten ohnehin eine extreme Herausforderung, die Sarah Chang wunderbar bewältigte. Das Ergebnis wäre noch beeindruckender gewesen, wenn sie sich ganz ohne Ablenkung auf ihr Instrument hätte konzentrieren können.
So ging jedoch in der recht heiklen Akustik des Wolkenturms stellenweise die Balance verloren. Einmal waren die Streicher gegenüber der Sologeige zu laut, dann wieder zu leise - aber natürlich gab es Momente, in denen einfach alles stimmte, wie auf dem Höhepunkt der gesamten "Jahreszeiten", dem "Kaminfeuer" (Anm.: der langsame Satz im Winter). Da brillierten alle Geiger bei den prägnanten Pizzicati, und Sarah Chang schwelgte nur so mit ihrem wunderbaren Instrument. Großartig und erwähnenswert war auch die Cembalistin, die beim langsamen Satz im Herbst so richtig aufblühte und einen Beweis dafür lieferte, daß man dieses Instrument nicht bloß als "lästiges Beiwerk" ansehen sollte.
Insgesamt war die Darbietung jedoch eine vertane Chance; Vivaldis Konzert hätte mit einem brillanten Dirigenten ein Erlebnis werden können.
Tonkünstler-Chef Yutaka Sado war der Maestro des restlichen Abends. Ob er für Vivaldi der Richtige gewesen wäre, sei dahingestellt. Für Mendelssohn und Strawinsky war er es auf alle Fälle - wenn auch nicht sternstundenverdächtig. Seine manchmal "lasche" Schlagtechnik wirkt sich gelegentlich auf die Einsätze aus, die dann wenig prägnant erklingen. Strawinskys selten gespielte "Psalmensymphonie" war mit dem hervorragenden Wiener Singverein (bis auf die diesmal schwächelnden Soprane) ein Erlebnis. Der russische Komponist vertonte in guten 20 Minuten drei Psalme, in die er nicht nur die russisch-orthodoxe Musik einfließen ließ, sondern vor allem auch den unsterblichen J. S. Bach. Im zweiten Satz hört man eindeutig Bachs "Ricercar a 6" aus dem "Musikalischen Opfer".
Camilla Nylund veredelte mit ihrem schönen Sopran Mendelssohns recht kurze geistliche Komposition "Hör mein Bitten, Herr" (mit Anklängen an seine zweite Symphonie "Lobgesang"), wobei der teilweise mikrophonverstärkte Sopran noch schöner hätte klingen können, wenn da die Technik nicht ihre Finger im Spiel gehabt hätte.
Ein Dirigent ganz anderen Kalibers ist der Franzose Stepháne Denève, der erstmals in Grafenegg mit dem europäischen Jugendorchester auftrat. Neben dem unsterblichen Klarinettenkonzert von Mozart war noch Mahlers 5. Symphonie zu hören. Bei Mozart konnte man Andreas Ottensamers (ein Sproß der Wiener Klarinettendynastie Ottensamer) ausgezeichnete Musikalität bewundern. Gemeinsam mit den großartigen jungen Leuten wurde Mozarts Spätwerk so richtig zelebriert. Denève erarbeitete mit den Musikern ein so beeindruckendes Pianissimo, wie man es heute viel zu selten zu hören bekommt. Der Soloklarinettist der Berliner Philharmoniker bedankte sich nach dem Konzert beim Publikum - passend zum klaren Nachthimmel - mit einer Paraphrase aus Puccinis "Tosca" ("Und es leuchteten die Sterne").
Mahlers Fünfte wäre auch eine unbedingte Sternstunde gewesen, hätte da nicht manchmal die Akustik ihre Streiche gespielt. Am Wolkenturm ist es (teilweise positionsabhängig) so, daß die Streicher oft gegenüber den Holz- und Blechbläsern verlieren. Der französische Maestro setzte sehr auf Transparenz und Sentiment, was ihm meistens gelang; aber vielleicht hätte er noch mehr auf die Balance achten sollen. Die Instrumentalisten im Orchester waren einfach hervorragend, nur das Schlagwerk war akustikbedingt wiederum im Nachteil. Die Pauke wirkte stellenweise irgendwie "substanzlos" (gegenüber dem massiven restlichen Orchester), und bei der als Zugabe gespielten exzellenten "Farandole" aus Bizets "Arlesienne-Suite" war das "Tambourin de Provence" viel zu schwach zu hören.
Der traditionelle "Composer in Residence" Grafeneggs ist 2019 Peter Ruzicka; auch bekannt als Ex-Intendant der Salzburger Festspiele. Beim Eröffnungskonzert war seine "Fanfare für Grafenegg 2019" zu hören, die stellenweise ans "Tuba Mirum" des Requiems von Berlioz erinnerte. Das Werk ist extrem kurz und reißt unvermutet ab. Amüsant war, daß sogar die Musiker, die von der Seite des Wolkenturms auf der Anhöhe spielten, recht verlegen wirkten.
Ganz anders war die "Fanfare für Solotrompete und Orchester" beim zweiten Konzert: ein interessantes, in sich geschlossenes Werk, das von der hervorragenden Trompeterin Nicola Rouse (ebenfalls von der Seite erhöht) und dem exzellenten Orchester zelebriert wurde.
Woche 2:
Das Basler Kammerorchester zählt zu den europäischen Spitzenensembles und ist ähnlich wie die Academy of St. Martin in the Fields auch universell einsetzbar. Die kleine und feine Truppe bewies am Sonntagvormittag in Grafenegg wieder einmal, wie fulminant sie solistisch und im Ensemble spielen kann.
Baptiste Lopez, der dirigierende Konzertmeister, führte sie in dieser Matinee durch französische Orchesterwerke von Francis Poulenc und Erik Satie. Poulenc, der auch als "Dadaist" der Musik bezeichnet wird, läßt seine Werke oftmals absichtlich konventionell erklingen, ohne sich dabei in ein festes Schema pressen zu lassen. Auch seine viersätzige "Sinfonietta" gehört dazu - da erklingen plötzlich banal anmutende Phrasen, die dann unvermittelt ins Skurrile, Ironische abrutschen. Die 1947 uraufgeführte "Sinfonietta" hat zeitweise den Charakter von Filmmusik, die der französische Komponist ebenfalls schrieb.
Das Basler Ensemble realisierte die Klänge einfach formidabel; es wäre unfair, einzelne Musiker herauszuheben, da sie alle einfach großartig musizierten und de facto ohne Dirigent phantastisch präzise und sauber spielten.
Zur Gattung Filmmusik gehören auch die zwei Miniaturen von Erik Satie, die Claude Debussy für Orchester arrangierte. Die "Gymnopédie Nr. 1" könnte von Debussy selber sein und hört sich an wie eines seiner Préludes für Klavier. Auch hier waren die Basler ganz in ihrem Element.
Die zwei Mozart-Klavierkonzerte dirigierte der Pianist Pjotr Anderszewski dann vom Steinway aus. Über Mozart braucht man nicht viel mehr zu erzählen. Die Klavierkonzerte sind insofern heikel aufzuführen, als der Orchestersatz sehr filigran und transparent ist und das Klavier keine "Sünden" verzeiht.
Anderszewski ist ein hervorragender Pianist mit einem wunderschönen Anschlag; leider übertrieb er es bei dieser Matinee allzu sehr mit dem Pedal. Der Steinway ist selbstklingend genug. Gerade bei Mozart gehört das Pedal sparsamst eingesetzt; der Hall und die daraus entstehende "Weichheit" zerstören hier den Klang. Ganz stark war das im A-Dur-Konzert zu bemerken, im G-Dur-Konzert war es weit besser. Warum dann im langsamen Satz wieder das Pedal so benutzt wurde, war unerklärlich. Schade, denn ansonsten wäre es ein musikalischer Höhepunkt gewesen.
Zwei Tage vor der Matinee trat im Wolkenturm das unvergleichliche Mariinski-Orchester auf. Valery Gergiev hat aus dem früher nicht wirklich bedeutenden Orchester ein Ensemble von Weltrang gemacht. Interessant ist übrigens, daß er den wuschelköpfigen Konzertmeister sowohl im russischen Orchester als auch bei den Münchner Philharmonikern einsetzt.
Gergiev, der in Bayreuth so richtig gemobbt wurde, ist natürlich ein Mensch, der polarisiert. Wenn man ihm vorwirft, daß er zu viele Auftritte hat, sollte man sich die Kalender von Mariss Jansons, Andris Nelsons usw. ansehen. Die sind auch extrem umtriebig - wenn auch nicht so sehr wie Gergiev.
Der russische Maestro ließ an diesem Abend Debussys "Prélude" und zwei Werke von Tschaikowski erklingen. Wenn man je daran gezweifelt hat, daß Debussy und Tschaikowski Berührungspunkte haben, denke man an Folgendes: Die große Kunstmäzenin Nadeschda von Meck unterstützte beide Komponisten trefflichst, und Debussy mußte sie öfters auf Reisen begleiten und dabei immer wieder Werke von Tschaikowski spielen.
An diesem Konzertabend zauberte Gergiev mit den St. Petersburgern traumhafte kammermusikalische Klänge, angefangen von der schillernden Soloflöte zu Beginn bis hin zu den transparent gesetzten Tutti. Als Zuhörer war man von Anfang an verzaubert und tauchte rasch in die Welt des "Fauns" ein.
Danach gab es ein echtes Tschaikowski-Fest: zuerst das allseits bekannte Violinkonzert, das der 1988 geborene russische Geiger Sergej Dogadin regelrecht zelebrierte. Dogadin gewann den Tschaikowski-Wettbewerb 2019 und beeindruckte durch exzellente Technik und ebensolche Musikalität. Gergiev webte dem Geiger einen Klangteppich in Luxusqualität, auf dem sich der Violinist mit traumhafter Sicherheit bewegte. In dieser Kombination mit einem solchen Virtuosen und einem phantastischen Orchester hört man dieses Konzert ganz selten. Dabei verging die Zeit wie im Fluge. Als Zugabe ließ der Geiger noch Paganini erklingen, bei dem er neben seiner Spitzentechnik natürlich seine Musikalität und auch seinen Humor erklingen ließ.
Wer Tschaikowskis letzte Symphonie "Pathétique" gut zu kennen glaubte, wurde an diesem Abend rasch eines Besseren belehrt. Gergiev zelebrierte mit dem russischen Orchester (übrigens nur mit einer mittleren Streicherbesetzung) dieses ultimative Werk in einer noch nie gehörten Drastik. Selten hörte man die Kanten, dunklen Winkel und unendlichen Abgründe so deutlich wie bei diesem Konzert. Schon die Durchführung des ersten Satzes lohnte den Besuch des ganzen Konzerts; der zweite Satz wurde im Fünfertakt richtig tänzerisch gebracht; der Marsch des dritten Satzes ließ den Klang explodieren, wobei die Ironie immer zu hören war. Absoluter Höhepunkt war jedoch der vierte Satz, der nach dem Marsch meist nur als Beiwerk angesehen wird. Hier ließen Gergiev und sein Orchester die ganze Tragik (so wie die in Tschaikowskis Leben ...) richtig hören und fühlen. Da war kein Takt irgendwie aufgesetzt, jede Note hatte ihren Sinn.
Das spürte auch das ansonsten eher unruhige Grafenegger Publikum. Nach der letzten Note, die im Nichts verklang, war minutenlanges atemloses Schweigen bei den Zuhörern zu bemerken. Das Konzert war jedenfalls ein Meilenstein in Grafeneggs Geschichte.
Woche 3:
Das 1888 gegründete Amsterdamer Concertgebouw Orchester ist eines der führenden Ensembles der Welt und nicht umsonst für seinen speziellen Klang berühmt, wovon man sich jetzt wieder in Grafenegg überzeugen konnte.
Der ursprünglich vorgesehene Dirigent Daniele Gatti, den man aufgrund merkwürdiger Anwürfe im Rahmen der "MeToo"-Hysterie entlassen hat, wurde in diesem Konzert durch Tugan Sokhiev ersetzt. Der nordossetische Musiker ist hochbegabt und hat schon viele führende Orchester dirigiert. Trotzdem wird er im Vergleich zu vielen Schaumschlägern der klassischen Musikszene viel zu wenig beachtet. Bei diesem Konzert durfte er deutlich zeigen, was er kann. Er dirigierte ohne Taktstock mit einer höchstpräzisen Schlagtechnik - schon die "Haydn-Variationen" von Johannes Brahms, bei denen es einige technische Hürden gibt (vor allem die "Variation V" mit ihren brutalen rhythmischen Verschiebungen) waren unter Sokhiev ein orchestrales Erlebnis. Mit allgegenwärtiger Transparenz verfolgten die Musiker unter dem Maestro alle instrumentalen Linien. Grandios bei den Variationen waren auch die Holzbläser.
Gemeinsam mit der deutschen Bratschistin Tabea Zimmermann wurde das posthume Violakonzert von Bela Bartok gespielt. Das Konzert hat eine ebenso interessante wie bewegte Entstehungsgeschichte. Es war ein Auftragswerk aus den USA, das Bartok 1945 leider nicht fertigstellen konnte. Sein Sohn Peter fand das Manuskript, und das Konzert wurde letztlich 1949 von Tibor Serly fertiggestellt. Trotz der "fremden" Eingriffe hört man deutlich Bartoks musikalische Sprache, in der die ungarische Folklore nicht zu kurz kommt - was gegen Ende des Stücks deutlichhörbar ist.
Es war toll, daß man dieses Werk einmal erleben konnte, vor allem mit einer so exzellenten Musikerin wie Zimmermann. Sie schafft es, aus ihrem eigentlich recht unzugänglichen Instrument schönste Klänge zu zaubern. Mit ihrer profunden Technik beweist sie, daß die Viola ihre Existenzberechtigung in der Musik hat. Trotzdem hat die Bratsche meist eine Begleitfunktion, quasi als "Harmoniefüller" im Orchester. Auch die Sololiteratur dafür ist recht spärlich; das bekannteste Werk ist immer noch "Herold in Italien" von Hector Berlioz. Als Zugabe ließ Tabea Zimmermann noch ein Bratschensolo von György Kürtag erklingen.
Obwohl erst Herbstbeginn war, ließen die Amsterdamer unter Sokhiev Tschaikowskis "Winterträume" erklingen und verzauberten damit das Publikum. Es war einfach begeisterungswürdig, wie der Maestro dem Orchester mit seiner souveränen Leitung die schönsten Klänge entlockte. Unvergeßlich erklang auch das Oboensolo im zweiten Satz, das sehr nachdenklich darüber machte, ob der so hochgepriesene Jörg Albrecht Mayer tatsächlich der weltbeste Oboist ist.
Auch die anderen Holzbläser und übrigens alle Instrumentengruppen waren unvergleichlich, bis hin zum triumphalen Finale, das die Leute von den Sesseln riß. Die obligate Zugabe war die Gavotte aus Prokofievs "Romeo und Julia" (bzw. als 3. Satz in der "Symphonie Classique" verwendet), bei der Sokhiev und die Musiker mit vielen Rubati brillierten.
Grafenegger Konzerte 2019
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Photo Stepháne Denève: © SWR
Photo Valery Gergiev: © Bernhard Buerklinc
Photo Tugan Sokhiev: © Mat Hennek
Hören darf man heuer auch ganz ohne Maske. Grund genug für den EVOLVER-Klassikexperten Herbert Hiess, seine Musiktips für die Weihnachtszeit unter den virtuellen Christbaum zu legen.
Nicht nur Thomas Angyan, der zukünftige Ex-Chef des Wiener Musikvereins, hätte sich den Abschluß seiner Karriere - ebenso wie Staatsoperndirektor Dominique Meyer - anders vorgestellt. Wie so viele Kulturschaffende gingen beide der angeblichen Pandemie in die Falle.
Wer Rudolf Buchbinder ist, braucht man eigentlich niemandem mehr zu erklären. Der sich im 74. Lebensjahr befindende Star-Pianist ist in Kulturkreisen weltweit ein Begriff - und vor allem in Sachen Beethoven eine Kapazität, an der man nicht vorbeigehen kann und darf.
Pech oder Schicksal - wie auch immer man es bezeichnen mag: Daß die großartige Berliner "Carmen" schon nach der zweiten Aufführung von Amts wegen gestoppt werden musste, hätte sich niemand gedacht. Jetzt kann man sie wohl einige Zeit nur als Stream oder Aufzeichnung betrachten. Die Staatsoper unter den Linden zeigt mit ihr jedenfalls, daß sie dank ihrer hervorragenden Musiker viele der angeblichen Spitzenhäuser übertrifft.
Wie Political Correctness als brutale Verlogenheit entlarvbar ist, zeigt das Stück "Der Vorname" des Autorenduos Patellière und Delaporte. Herbert Hiess hat es in den Kammerspielen erlebt.
Alle Jahre wieder ... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der "Streß", der oft zu Geschenkskäufen in letzter Minute führt. Um Verlegenheitsgaben wie Socken oder Bonbonnieren zu umgehen, hat der EVOLVER-Klassikexperte einige Tips zusammengestellt, die nicht nur eingefleischten Klassikliebhabern Freude bereiten werden.
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