Musik_Musiksommer Grafenegg

Verpaßte Chancen

Am 24. Juli gastierte das Mahler Chamber Orchestra mit einem rein slawischen Programm in Niederösterreich. Der Eindruck war zwiespältig: Während Viktoria Mullova an der Geige brillierte, ließ die Arbeit des Dirigenten zu wünschen übrig.    28.07.2010

Der 33jährige ossetische Maestro Togan Sokhiev dürfte in der Szene so etwas wie ein "rising star" sein; er wird von Orchester zu Orchester und von Opernhaus zu Opernhaus (lauter namhafte natürlich) herumgereicht wie ein Wanderpokal. Sein Auftritt in Grafenegg hinterließ jedoch eher gemischte Gefühle. Sokhiev scheint technisch souverän zu sein - aber es ist doch verwunderlich, daß er sogar bei einem "Gassenhauer" wie Dvoraks 8. Symphonie den Kopf tief in der Partitur vergraben hatte. Das allein wäre noch nicht störend; schade war aber, daß er bei dieser großartigen Symphonie keine Melodiebögen auskostete, wenig Kantilenen hören ließ usw.

Antonin Dvoraks Achte ist bei allen großen Dirigenten ein Mark- und Meilenstein. Unvergeßlich bleiben die Konzerte und Einspielungen mit Karajan, Maazel, Vaclav Neumann und Harnoncourt. Vor allem Karajan befaßte sich bis knapp vor seinem Tod immer wieder intensiv mit diesem Werk. Sokhiev sollte sich wenigstens einige einschlägige Aufnahmen anhören, um zu begreifen, was man hier musikalisch noch alles unterbringen kann. Schade, daß der Dirigent hier viele, viele Chancen ungenutzt verstreichen ließ - es nützt halt nichts, wenn man nur etwas selbstverliebt mit geschlossenen Augen die Bratschen fixiert. Der musikalische Impetus muß anders "rüberkommen"!

Der wirkliche Star des Abends war die Geigerin Viktoria Mullova. Die knapp 50jährige Moskauerin gewann schon mit zwanzig bedeutende Wettbewerbe und arbeitet seit Beginn ihrer Karriere mit den wichtigsten Orchestern und Dirigenten zusammen. Sergej Prokofjews zweites Violinkonzert in g-moll, das Mullova mit dem Mahler Chamber Orchestra spielte, ist eines der "schrägsten" Solokonzerte der Konzertliteratur überhaupt. Hochvirtuos komponiert, läßt es keine Schwierigkeit für den Musiker aus. Rasante Läufe werden durch süße Kantilenen abgelöst, Kontrapunkte und Themen in einer Art Zwiesprache zwischen Orchester und Solist ausgetauscht. Selten noch wurde das Konzert so phänomenal interpretiert wie von der russischen Violinistin. Besonders eindrucksvoll war der langsame Satz, in dem Pizzicati und ein Klarinettensolo das schwelgende Hauptthema der Geigerin kontrapunktieren. Schade, daß Sokhiev in Sachen Lautstärke keine Rücksicht auf Mullova nahm und sie überfuhr, als sie das herrliche Thema gegen Satzende selbst im zartesten Pianissimo im Pizzicato spielte. Als Zugabe gab die Meisterviolinistin ein Stück von Bach und bewies, daß sie nicht umsonst für ihre Interpretationen dieses Komponisten berühmt ist.

Das Mahler Chamber Orchestra ist quasi eine Abspaltung des Gustav-Mahler-Jugend-Orchesters und wurde 1977 gegründet - man kann es auch als Pendant zum Chamber Orchestra of Europe bezeichnen. Das Ensemble zeigte bereits bei den Alban-Berg-Opern Wozzeck und Lulu im Rahmen der Wiener Festwochen 2010, was es kann. Auch in Grafenegg lieferte es eine gute Vorstellung, wobei jedoch manche instrumentale Einzelleistungen - darunter auch die Klarinette beim zweiten Satz des Violinkonzerts - nicht wirklich formidabel waren.

Borodins "Steppenskizze" und das Prokofjewsche Violinkonzert wurden hervorragend gespielt; daß Dvoraks Symphonie so wenig beeindruckend war, lag vor allem am Dirigenten. Als Zugabe spielte das Orchester einen Tanz aus Prokofjews "Romeo und Julia" und entließ das Publikum damit halbwegs zufrieden in den strömenden Regen.

Herbert Hiess

Orchesterkonzert vom 24. Juli 2010

ØØØ 1/2

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Mahler Chamber Orchestra/Togan Sokhiev

Werke von Alexander Borodin, Sergej Prokofjew und Antonin Dvorak

 

Solistin: Viktoria Mullova (Violine)

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