Musik_Grafenegger Festival 2015

Musikalische Berg- und Talfahrt

Wenn ein Jugendorchester ein amerikanisches Orchester "aussticht", hat das einen pikanten Beigeschmack - so geschehen beim Grafenegger Festival 2015. Als Highlight gab es ein Konzert im Rahmen einer wehmütig stimmenden Abschiedstournee und eine fulminante Sternstunde der Berliner Philharmoniker.    05.10.2015

Das Festival am Kamp steht konzertmäßig den Salzburger Festspielen um nichts mehr nach; das macht sich auch insofern bemerkbar, als sich mittlerweile die besten Orchester der Welt gern auf dem wunderschönen Schloßparkgelände aufhalten. Mittlerweile konnten sogar die Berliner Philharmoniker für zwei Konzerte gewonnen werden, die dem Festival 2015 die Krone aufsetzten.

 

Die Musiker brachten bei beiden Auftritten dasselbe Programm wie bei den Salzburger Festspielen. Das vom EVOLVER-Klassikexperten besuchte Konzert ließ die selten gespielten Streichervariationen von Britten über ein Thema von Frank Bridge und die ebenso kaum gespielte 4. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch hören.

Gerade die Variationen für Streichorchester sind für Britten-Fans interessant, da sie ein Tribut für seinen Musiklehrer Frank Bridge sind. Britten hat ein Thema des Mentors genommen und in verschiedene Formen gegossen, die er bei Bridge erlernte. Daraus entstand ein Werk mit Thema und zehn Variationen, die von einem Adagio über einen Marsch und Trauermarsch bis hin zu einer Romance und der von vielen Komponisten so gern genommenen Schlußfuge reichten. Sir Simon Rattle demonstrierte mit den übermenschlich spielenden Streichern, daß bei ihnen jede kleine Nuance, jeder Akzent auf dem Punkt saßen. Schon diese etwa 30 Minuten waren ein Erlebnis für sich.

Was aber das volle Orchester in Sachen Schostakowitsch hören ließ, kann man ruhig unter "rare Erlebnisse im Leben" verbuchen. Die Symphonie des russischen Revolutionärs, die er aus politischen Gründen fast 30 Jahre liegenlassen mußte, ist ein einziger Schmerzensschrei, der den Terror Stalins plastisch erleben läßt. Das Monsterwerk hat drei Sätze, wobei der erste und letzte extrem lang und der Mittelsatz sehr kurz sind. Dieser Mittelsatz ist ein pittoresker Tanz, der immer wieder durch Schlagwerkeinlagen unterbrochen wird, und endet mit (zu) wenigen Takten einer Schlagwerkkombination und einem zarten Tremolo der Geigen. Diese Leistung macht den Berlinern so schnell niemand nach ...

Die anderen Sätze sind in Einzelteile zersplittert, wobei manche Teile direkte Kriegserlebnisse sind und andere wieder eine optimistische Stimmung bringen sollen, die aber sofort wieder in sich zusammenbricht - so wie viele Walzer und Tänze, die fröhlich beginnen und dann in skurrile (Toten-)Tänze ausarten. Im Final-Allegro hört man ein feierliches Jubelfinale, das jedoch nach wenigen Momenten in einem abgrundtief traurigen Abgesang endet. Und wie Rattle das mit den Berlinern umsetzte, kann man sowieso nicht mit Worten ausdrücken - außer daß man tief erschüttert den Saal verließ. Hier setzte sich der britische Dirigent selbst ein musikalisches Denkmal.

 

Intendant Rudolf Buchbinder war zweimal mit Orchestern zu hören: zuerst mit dem staatlichen russischen Orchester "Jewgeni Swetlanow" unter Wassili Petrenko und dann mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta. Mit den Russen spielte Buchbinder Schumanns Klavierkonzert in a-moll und als Zugabe ein Impromptu von Franz Schubert, während er mit dem israelischen Orchester Brahms 1. Klavierkonzert in d-moll spielte; beide auf ihre Art mit einem hochmusikalischen Anschlag - ganz im Zeichen der deutschen Romantik. Danach ließen es die Russen bei der 4. von Tschaikovsky richtig knallen, und die Israelis spielten sich routiniert durch Tschaikowskis "Pathetique".

Bei einem Konzert mit den Tonkünstlern wagte man das Experiment, die knapp 27jährige Geigerin Veronika Eberle mit dem Weltklasse-Cellisten Gautier Capuçon für das Doppelkonzert von Brahms zusammenzuspannen. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen, da der uneitle Meistercellist niemals versuchte, die junge Frau zu übertrumpfen. Das Duo zelebrierte mit dem niederösterreichischen Hausorchester das allzu selten gespielte a-moll-Konzert, vor allem den träumerischen und amerikanisch anklingenden langsamen Mittelsatz.

Schade, daß die Tonkünstler dann bei Beethovens "Eroica" absolut nichts zu sagen hatten. Der junge tschechische Dirigent Jakub Hruša (mittlerweile designierter Chef der Bamberger Symphoniker) schlug zwar sauber den Takt, aber manche Einsätze klangen leider unsauber. Vielleicht kann jemand der jungen Paukistin beibringen, daß die Pauke der "Motor" des Orchesters ist. Mit einem guten Paukisten steht und fällt oft die Aufführungsqualität, wobei letzteres an diesem Abend eintrat. Darüber hinaus fehlte bei der ganzen Aufführung "der große Geist" des Napoleon gewidmeten Werkes. Zu Beginn des Konzertes spielte das Orchester "Ex nihilo" des "Composers in Residence" Matthias Pintscher - ein klangfarbenträchtiges Stück, das meist wie Filmmusik aus einem Horrorstreifen klang und vom Orchester sehr sauber und interessant umgesetzt wurde.

 

Ein interessantes Erlebnis boten die zwei Konzerte des Boston Symphony Orchestra und das anschließende Konzert des European Union Youth Orchestra. Auf der einen Seite das amerikanische Meisterorchester, auf der anderen ein "Haufen" junger und hungriger, begeisterungsfähiger Leute.

Die Tournee der Amerikaner war der europäische Antrittsbesuch der Musiker mit dem so allgemein geschätzten und überschätzten Andris Nelsons. Der "Ziehsohn" Mariss Jansons ist ein Vorturner der besonderen Art. Mit übermenschlichen Verrenkungen in 360-Grad-Dimensionen, gespickt mit "Carlos Kleiber-Bewegungen", versuchte Nelsons den Musikern Effekte zu entlocken. Unbeirrt spielten die Musiker (nicht immer sauber!) ihre Noten. So hatte man den Eindruck, daß die Bewegungen des Maestros bestenfalls dem Kalorienverbrauch dienten. Als besondere Schwierigkeit hatten die Musiker mit den akustischen Eigenheiten des Wolkenturms zu kämpfen. Der Klang war extrem bläser- und schlagwerklastig und auch leider nicht immer sehr synchron und sauber. Nelsons erzielte zeitweise tatsächlich sehr schöne Effekte; schade, daß dann vieles auf der Strecke blieb. So zerbröselte der lange vierte Satz der sechsten Symphonie von Mahler in seine Einzelteile. Und bei Strauss´ "Heldenleben" konnten die Musiker einfach nicht übermitteln, was der Komponist da mitteilen wollte. Dafür klang das unheimlich komplizierte Violinsolo berückend schön. Wieso Nelsons bei den Schlußtakten das quasi "letzte Aufbäumen" des Helden nicht wirklich ausspielen ließ, bleibt bis heute ein Rätsel. Man hatte den Eindruck, daß nur ein einfaches Forte gespielt wurde.

Wie ausgewechselt war die Stimmung dann beim Konzert des Residenzorchesters European Union Youth Orchestra. Unter dem hervorragenden Gianandrea Noseda brillierten die jungen Musiker mit Werken von Giuseppe Verdi und Gustav Mahler. Ohne Akustikprobleme (wie bei den Bostonern) und souverän spielten die solistisch eingesetzten Instrumentalisten (herrlich das Solocello bei Verdis Ouvertüre zu "I Masnadieri", die Trompeten- und Hornsoli, die Oboensoli etc. bei Mahlers Symphonie) und das ganze Orchester ein Konzert wie langjährige Musiker eines Profiorchesters. Die meisterhafte Interpretation und das exzellente Spiel weckten Freude im Publikum - und das Gefühl, daß man sich wirklich keine Sorgen um die künstlerische Zukunft zu machen braucht. Angela Gheorghiu, die man statt Diana Damrau als Solistin erleben durfte, machte mit zwei großen Verdi-Arien ("Macht des Schicksals", "Don Carlos") das Konzertpodium zum Welttheater. Schon sie und ihre grandiose Stimme waren den Besuch des Konzertes wert.

Sehr berührend war das Konzert im Rahmen der Abschiedstournee des mehr als beeindruckenden estnischen Dirigenten Neeme Järvis mit seinem Orchestre de la Suisse Romande. Der 78jährige Maestro brachte mit dem grandiosen Orchester auf zauberhafte Weise Tschaikowskis Violinkonzert mit der fabelhaften Arabella Steinbacher und eine überschäumende "Symphonie Fantastique" von Berlioz. Hier war ein echtes Künstlerleben spür- und hörbar. Schade, daß man das Genfer Orchester viel zu selten live hören kann - es hinterließ einen wahrhaft bleibenden Eindruck. Als Zugabe spielten die Genfer das "Andante Festivo" von Jean Sibelius in der seltenen Besetzung Streicher und Pauken, die erst im Schlußakkord zum Einsatz kamen. Obwohl der Abschied von Järvi wehmütig war, konnte man froh sein, ihn in so großer Form erleben zu dürfen.

Herbert Hiess

Konzert am 16. August 2015

ØØØØØ

Orchesterkonzert im Wolkenturm/Auditorium

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von P. I. Tschaikowski und Héctor Berlioz

 

Arabella Steinbacher/Violine

 

Orchestre de la Suisse Romande/Neeme Järvi

 

Fotos: Julia Wessely, Monika Rittershaus

Links:

Konzert am 20. August 2015

ØØØ

Orchesterkonzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Prokofjew, Schumann und Tschaikowski

 

Rudolf Buchbinder/Solist

The State Academic Symphony Orchestra of Russia "Jewegeni Swetlanow"/Wassili Petrenko

Links:

Konzert am 23. August 2015

ØØØØ 1/2

Orchesterkonzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Johannes Brahms und P. I. Tschaikowski

 

Rudolf Buchbinder/Solist

The Israel Philharmonic Orchestra/Zubin Mehta

Links:

Konzerte am 27. und 28 August 2015

ØØØ

Orchesterkonzerte

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Gustav Mahler, Joseph Haydn, Samuel Barber und Richard Strauss

 

Boston Symphony Orchestra/Andris Nelsons

Links:

Konzert am 29. August 2015

ØØØØØ

Orchesterkonzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Giuseppe Verdi und Gustav Mahler

 

Solistin: Angela Gheorghiu, Sopran

 

European Union Youth Orchestra/Gianandrea Noseda

Links:

Konzert am 4. September 2015

ØØØ

Orchesterkonzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Pintscher, Brahms und Beethoven

 

Veronika Eberle/Violine

Gautier Capuçon/Cello

 

Tonkünstler-Orchester Niederösterreich/Jakub Hrůša

Links:

Konzert vom 5. September 2015

ØØØØØ

Orchesterkonzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Britten und Schostakowitsch

 

Berliner Philharmoniker/Sir Simon Rattle

Links:

Kommentare_

Musik
Weihnachtliche Musiktips im Corona-Jahr

Geschenktips für Klassikfreunde

Hören darf man heuer auch ganz ohne Maske. Grund genug für den EVOLVER-Klassikexperten Herbert Hiess, seine Musiktips für die Weihnachtszeit unter den virtuellen Christbaum zu legen.  

Musik
Orchesterkonzert der Wiener Philharmoniker

Seltsame Zeiten

Nicht nur Thomas Angyan, der zukünftige Ex-Chef des Wiener Musikvereins, hätte sich den Abschluß seiner Karriere - ebenso wie Staatsoperndirektor Dominique Meyer - anders vorgestellt. Wie so viele Kulturschaffende gingen beide der angeblichen Pandemie in die Falle.  

Print
Rudolf Buchbinder im Interview

Reise durch den Beethoven-Kosmos

Wer Rudolf Buchbinder ist, braucht man eigentlich niemandem mehr zu erklären. Der sich im 74. Lebensjahr befindende Star-Pianist ist in Kulturkreisen weltweit ein Begriff - und vor allem in Sachen Beethoven eine Kapazität, an der man nicht vorbeigehen kann und darf.  

Musik
Wiederaufnahme in der Berliner Staatsoper

Carmen in der Corona-Krise

Pech oder Schicksal - wie auch immer man es bezeichnen mag: Daß die großartige Berliner "Carmen" schon nach der zweiten Aufführung von Amts wegen gestoppt werden musste, hätte sich niemand gedacht. Jetzt kann man sie wohl einige Zeit nur als Stream oder Aufzeichnung betrachten. Die Staatsoper unter den Linden zeigt mit ihr jedenfalls, daß sie dank ihrer hervorragenden Musiker viele der angeblichen Spitzenhäuser übertrifft.  

Stories
"Der Vorname" in den Kammerspielen

Makabre Wohnzimmerkomödie

Wie Political Correctness als brutale Verlogenheit entlarvbar ist, zeigt das Stück "Der Vorname" des Autorenduos Patellière und Delaporte. Herbert Hiess hat es in den Kammerspielen erlebt.  

Musik
Last-Minute-Ideen für Klassikliebhaber

Weihnachtliche CD-Tips aus Wien

Alle Jahre wieder ... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der "Streß", der oft zu Geschenkskäufen in letzter Minute führt. Um Verlegenheitsgaben wie Socken oder Bonbonnieren zu umgehen, hat der EVOLVER-Klassikexperte einige Tips zusammengestellt, die nicht nur eingefleischten Klassikliebhabern Freude bereiten werden.