Musik_Spitzenorchester in Grafenegg
Besuche aus Europa ...
... solange es noch steht: Das Jahr 2014 war wieder ein Fest für Grafenegg-Besucher sowie die Intendanz des Festivals. Vier Gastorchester aus ganz Europa lieferten Konzerte auf dem Niveau der Salzburger Festspiele. Man muß sich über die schläfrigen Wiener Konzertveranstalter wundern, die keines dieser Ensembles engagierten.
19.09.2014
Der musikalische Orchester-Streifzug durch den Kontinent begann mit Gästen von den britischen Inseln, nämlich dem London Symphony Orchestra - diesmal aber nicht unter seinem Chef Waleri Gergijew, sondern unter dem Leiter der Londoner Covent Garden Opera, Sir Antonia Pappano.
Der nette und bescheidene, dafür aber überaus kompetente und musikalische Maestro gab eine Lehrstunde in Sachen genialer Interpretation und Musikalität. Bei Beethovens erstem Klavierkonzert, das Grafenegg-Intendant Buchbinder souverän intonierte, machte Pappano das Orchester nicht zu einem bloßen "Begleitinstrument", sondern vielmehr zu einem eigenständigen gestaltenden Klangkörper. Es war einfach toll, wie das großartige Ensemble vom Pianisten Phrasierungen übernahm oder umgekehrt an ihn weitergab. So ausmusiziert hört man ein Beethoven-Klavierkonzert selten.
Der Klangzauber setzte sich bei Tschaikowskis "Nußknacker"-Auszügen fort. Hier bekam man Musik des russischen Komponisten fernab vom Gassenhauer- und Wunschkonzertniveau zu hören. Ob beim "Tanz der Rohrflöten", beim "Blumenwalzer", beim "Trepak", beim "Spanischen Tanz" oder dem abschließenden "Pas de Deux" - der italienische Maestro versetzte Orchester und Publikum in einen wahren Klangrausch. Das als Zugabe gespielte Intermezzo von Puccinis "Manon Lescaut" vervollständigte die positiven Eindrücke: ein Abend der Superlative!
Auch das zweite Konzert konnte sich hören lassen. Die Rotterdamer Philharmoniker mit ihrem Chef Yannick Nézet-Séguin brachten ein deutsch-russisches Programm, das die Besucher begeisterte. Das große, fast unspielbare erste Klavierkonzert von Brahms wurde vom Hauspianisten Emanuel Ax begeisterungswürdig interpretiert. Das Stück ist nicht nur hochvirtuos gesetzt, sondern schon wegen seiner Länge von mehr als 50 Minuten eine wahre Kraftanstrengung. Doch der polnische Pianist Ax musizierte hier aufs Feinste. Orchester und Dirigent - viel mehr als bloße Begleiter des Klaviers - ließen Ax nicht nur freie Bahn für die Interpretation, sondern machten viele feine Schattierungen und Phrasen hörbar.
Der Dirigent steigerte das Erlebnis bei Rimski-Korsakows "Scheherazade" noch (das Werk ist übrigens fixer Bestandteil der Grafenegger Konzertprogramme). Die Musiker lieferten ein wahres Feuerwerk von Rubati, brillanten Soloeinlagen und Steigerungen. Selten war das manchmal abgedroschen klingende Werk so fulminant zu hören. Als Zugabe durfte man ein zauberhaftes Vorspiel zu Mussorgskis "Chowanschtschina" genießen.
Das dritte Konzert mit den St. Petersburger Philharmonikern war noch die "schwächste" der vier vom EVOLVER-Klassikexperten besuchten Veranstaltungen. Die Philharmoniker sind natürlich immer auf technisch höchstem Niveau - jedoch ließ der manchmal starre Dirigent Juri Temirkanow nicht viele Emotionen zu. Rachmaninows drittes Klavierkonzert wurde dank des brillanten Pianisten Nikolaj Luganski zum Ereignis; manchmal hätte man sich allerdings eine bessere "Pianokultur" des Orchesters gewünscht.
Schostakowitschs 10. Symphonie, die mit ihren Klage- und Kriegsklängen eigentlich aufwühlen sollte, geriet wegen des emotionsarmen Dirigenten nur zu einer "orchestralen " Leistungsschau. Hier sehnte man sich geradezu nach dem Mariinski-Orchester. Irgendwie amüsant, daß gerade die für ein russisches Orchester unübliche Zugabe ("Nimrod" aus Elgars "Enigma"-Variationen) noch den größten Eindruck hinterließ ...
Besonders bemerkenswert war zu guter Letzt das Grafenegg-Debüt des Orchesters der Mailänder Scala unter Daniel Harding. Nach einer fulminanten Sinfonia zur Oper "Die Macht des Schicksals" konnte man eine orchestral exzellente Wiedergabe der "Vier letzten Lieder" von Richard Strauss erleben. Leider war dabei aber festzustellen, daß die ansonsten so grandiose Sängerin Dorotea Röschmann entweder einen schlechten Tag hatte und/oder ihre Stimme für diese Lieder nicht gerade besonders geeignet ist. Strauss´ Lieder stellen die höchsten Ansprüche an einen Sopran, haben einen enormen Tonumfang und verlangen ständige Registerwechsel. Gerade bei denen hatte Frau Röschmann allerdings oft Luftprobleme, ihre Stimme klang zeitweise "kehlig", und sie konnte häufig die langen Bögen nicht halten. Wenn aber ein angeblich prominenter Rezensent meint, die großartige Sängerin habe mit 47 Jahren den "Zenit ihrer Karriere überschritten", kann man das nur als Unsinn bezeichnen.
Zum Abschluß brachte das Orchester eine beeindruckende Interpretation von Mahlers 1. Symphonie. Mögen die Einsätze der diversen Gruppen auch nicht immer perfekt gewesen sein - mit der ganzen klanglichen Farbpalette, den Schattierungen und Phrasierungen schlugen Harding und die Mailänder Musiker das Publikum in ihren Bann. Dies war übrigens das erste Mal, daß ein Dirigent die Bezeichnung des zweiten Satzes beachtete ("Kräftig, jedoch nicht zu schnell") und hören ließ, daß dieser Teil ein "b´soffener Landler" ist. Das Orchester bedankte sich interessanterweise mit der gleichen Zugabe wie Sir Antonio Pappano (Intermezzo aus Puccinis "Manon Lescaut").
Daß die Kulturweltstadt Wien und ihre Veranstalter keines dieser Orchester in ihre Häuser einluden, ist einerseits bezeichnend und andererseits natürlich eine Schande. Da waren vier großartige Ensembles in Grafenegg zu hören, in Graz gastierte das Concertgebouworchester - und im Musikverein sowie im Konzerthaus scheint man das alles verschlafen zu haben.
Herbert Hiess
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