Musik_Grafenegg 2013
Hochkultur auf dem Lande
Das 2007 gegründete Festival Grafenegg hat auch im siebenten Jahr seines Bestehens nichts an Attraktivität eingebüßt - ganz im Gegenteil. Lesen Sie, was der EVOLVER-Klassikexperte allein in der ersten Serie seiner Besuche am wunderschönen Campus hören durfte. Die vier Konzerte versprühten mehr Weltklasse, als man sonst in einer ganzen Wiener Musiksaison erleben darf.
09.09.2013
Das Schlußkonzert des heutigen Sommerfestivals war eine Referenz an den australischen Kontinent. Nicht nur, daß das phänomenale Australian Youth Orchestra eine künstlerische Leistung bot, die locker mit Weltklasseorchestern mithalten kann - man hörte zum Einstieg auch ein vom Australier Peter Sculthorpe komponiertes Konzert für Didgeridoo und Orchester. Mit ersterem versetzte der Aborigine William Barton die Zuhörer in die Welt des australischen Urvolks. Sculthorpe kleidete das obertonreiche Instrument in ein interessantes Farbenspektrum, ohne die Eigenart des Instruments zu konterkarieren. Wer den Klang eines Didgeridoos im Ohr hat, der weiß, daß kaum ein anderes Instrument zu diesem Klangkörper paßt. Daher war Sculthorpes Partitur eher ein eigenständiges Werk als eine "echte" Begleitung.
Das übrige Konzert stand ganz im Zeichen des amerikanischen Meistergeigers Joshua Bell. Der spielte zuerst hochmusikalisch und berührend Tschaikowskis Violinkonzert und war im zweiten Teil Sologeiger in der "Scheherazade" (übrigens eines der am häufigsten gespielten Werke in Grafeneggs kurzer Geschichte). Christoph Eschenbach erwies sich - trotz seiner emotionalen Distanz - ein hervorragender Einstudierer und Leiter der jungen Musiker.
Die nächsten beiden besuchten Konzerte wurden vom Schweizer Dirigenten Charles Dutoit geleitet, der sowohl mit seinem Royal Philharmonic Orchestra London als auch mit dem japanischen NHK-Orchestra bravourös bewies, was für ein großartiger Musiker er ist. Beim Londoner Orchester saß Grafenegg-Intendant Rudolf Buchbinder am Klavier, wo er Griegs A-moll-Konzert zelebrierte und damit die größte Überraschung des Abends lieferte. Der Wiener Pianist war ja bis jetzt nie ein großer Verfechter von Klangzauber und (positiver) Sentimentalität. Doch zusammen mit Dutoit musizierte er mit berührendem Anschlag und Klangzauber das Klavierkonzert des norwegischen Komponisten.
Mit dem japanischen Orchester war der sibirische (und in Wien lebende) Violinist Vadim Repin zu hören. Er spielte Edouard Lalos "Symphonie Espagnole" - zwar sehr virtuos und sauber, doch konnte er keineswegs mit Bells Klangkultur und Poesie mithalten.
Dafür zeigte sich Dutoit als der Weltklassedirigent, der er ist - ob bei Sibelius´ "Karelia-Suite", Bartoks "Mandarin"-Suite oder der "Daphnis et Chloé"-Suite mit dem Londoner beziehungsweise Berlioz´ "Symphonie Fantastique" mit dem Tokioter Orchester. Der Maestro versteht es immer wieder, die Musiker über sich hinauswachsen zu lassen und die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Vor allem die Berlioz-Symphonie hat man noch selten so musikalisch und mitreißend gehört. Das riß sogar das sonst so applausfaule Grafenegger Publikum am Schluß zu "standing ovations" hin.
Buchbinder konnte man dann noch einmal mit dem St. Petersburger Mariinsky-Orchester unter dessen Chef Valery Gergiev erleben. Die Musiker brachten die berühmten "Paganini-Variationen" von Rachmaninow. Hier zeigte der Pianist, daß seine Sensibilität keine Eintagsfliege war. Im Gegenteil: Mit Gergiev und der exzellenten Begleitung durch das Orchester waren die Variationen ein richtiges Erlebnis, vor allem die 18. Variation. Hier tauchten Pianist, Dirigent und Orchester in einen wahren Klangrausch ein.
Ein echter Horrorfilm nach Noten war nach der Pause Schostakowitschs "Das Jahr 1905" Nr. 11 in g-moll. Das 1957 uraufgeführte Werk ist eine musikalische Schilderung des "St. Petersburger Blutsonntags" von 1905, als eine aufkeimende Revolution von der Palastwache des Zaren blutig niedergeschlagen wurde. Beklemmend, wie Gergiev und seine St. Petersburger Musiker diese Geschichte erzählen: Harte, brutale Klänge wurden nahtlos von traurig klingenden Liedmelodien abgelöst. Der letzte Satz soll zwar ein wenig Optimismus für eine bessere Zukunft versprechen - doch nach der Aufführung stand man trotzdem mit einem Gefühl der Beklemmung auf. Und das auch, wenn man sich gar nicht für die aktuelle politische Situation in Rußland interessiert ...
Herbert Hiess
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