Musik_Wiederaufnahme in der Berliner Staatsoper

Carmen in der Corona-Krise

Pech oder Schicksal - wie auch immer man es bezeichnen mag: Daß die großartige Berliner "Carmen" schon nach der zweiten Aufführung von Amts wegen gestoppt werden musste, hätte sich niemand gedacht. Jetzt kann man sie wohl einige Zeit nur als Stream oder Aufzeichnung betrachten. Die Staatsoper unter den Linden zeigt mit ihr jedenfalls, daß sie dank ihrer hervorragenden Musiker viele der angeblichen Spitzenhäuser übertrifft.    26.03.2020

Die Phrase "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" könnte in kaum einem Fall besser zutreffen als auf den Abend des 10. März 2020, den der Verfasser dieser Zeilen in der Berliner Staatsoper Unter den Linden erleben durfte. Dort mußte man erfahren, daß an diesem Abend virusbedingt die letzte Aufführung stattfand.

Und es war nicht irgendeine Aufführung, sondern nach den Wiener "Carmen"-Inszenierungen unter Kleiber, Abbado und Maazel sowie der Salzburger Großleistung eines Herbert von Karajan eine Produktion, die man bedenkenlos auf die gleiche Stufe mit den vorgenannten stellen kann.

Die Staatskapelle Berlin spielte unter ihrem Chefdirigenten Daniel Barenboim mit einem unbeschreiblichen Luxusklang. Es war höchst erfreulich zu hören, daß Barenboim, der auch ein begnadeter Kammermusiker und Solist ist, kammermusikalischen Klang ebenso zum Erlebnis machen kann. Fernab von der "Tschinbumm"-Stierkampfmusik hörte man feinste Nuancen und berührende Dialoge von Holzbläsern mit den Sängern (z .B. in der "Blumenarie").

Es ist zwar ungerecht, einzelne Orchesterspieler zu erwähnen, da alle phantastisch waren – aber Soloflöte (Vorspiel 3. Akt), Fagott (Vorspiel 2. Akt) und Englischhorn ("Blumenarie") gehören auf jeden Fall extra vor den imaginären Vorhang gebeten. So nebenbei war es auch eine schöne Geste von Barenboim, daß er beim Schlußapplaus mit dem gesamten Orchester auf die Bühne ging.

Die Schwärmerei übers Orchester darf man nahtlos bei den Sängern fortsetzen. Es ist schon einmal nicht selbstverständlich, daß alle Solisten mehr als exzellent sind - und die vier Hauptrollen sangen an diesem Abend tatsächlich auf Weltniveau.

Da wäre einmal die "Carmen", gesungen von der Frau mit dem fast unaussprechlichen Namen: Anita Rachvelishvili verfügt über einen sonoren Alt mit phantastischer Höhe und einem vollen, satten Klang, ähnlich dem der großartigen Marilyn Horne. Die georgische Sängerin ist ein wahrer Vulkan – nicht nur schauspielerisch, sondern vor allem auch vokal. Es war äußerst mitreißend, wie sie bis zum letalen Schlußduett die Rolle interpretierte. Und sie versteht es, nicht nur stimmlich aufzutrumpfen, sondern sich auch mit vollem Einsatz zurückzunehmen. Die "Kartenarie", die Barenboim mit intensivstem Stillstand dirigierte, wurde ob ihrer wunderbaren Piani zu einem Erlebnis.

Der Tenor Michael Fabiano versteht es ebenso, mit schönsten Piani zu verzaubern. Er ist in der Höhe vielleicht nicht so strahlend wie andere "Schmetterer", doch sein baritonal gefärbter Tenor beeindruckte von Nummer zu Nummer, von Akt zu Akt. Unvergeßlich waren seine Pianophrasen bei der "Blumenarie", die in einem gänsehauterzeugenden Pianissimo-B gipfelten.

Christiane Karg war die traumhafte Ergänzung in diesem Wunderteam. Mit höchster Musikalität setzte sie ihren strahlend-silbrigen Sopran ein und sang mit Fabiano eines der allerschönsten Duette (nämlich das aus dem ersten Akt).

 

Nicht zuletzt ist der noch immer brillante Lucio Gallo zu erwähnen, den man schon aus der Wiener Abbado-Zeit kennt. Mit seinen fast 60 Jahren steckt er viele junge Sänger quasi in die Tasche und kann einen der besten Escamillos liefern. Die Partie zählt ja zu einer der allerschwersten; allein im Torerolied wird vom Sänger in Sachen Höhe und Tiefe wirklich alles gefordert. Bewundernswert, mit welcher Bravour Herr Gallo hier Maßstäbe setzte.

Auch die Regie war mehr als beeindruckend. Der Wiener Burgtheaterdirektor Martin Kusej inszenierte ein von Düsternis und Tod umwölktes Sevilla, in dem man schon beim inszenierten Schicksalsmotiv das sich immer ins Fatale wendende Schicksal miterleben konnte. Auch wenn diese "Carmen" ungewöhnlich ausging (Escamillo verliert im Stierkampf sein Leben, und sein Leichnam wird feierlich hinausgetragen) - die Regie war bestechend und berührend.

Wer diese exzellente Aufführung nicht live erleben konnte, kann sie unter diesem Link im Stream betrachten. Das ist natürlich nicht dasselbe wie live - aber eine solche Produktion mit so einer Besetzung sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Herbert Hiess

Georges Bizet - Carmen

ØØØØØ

Oper in vier Akten

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Solisten:

Anita Rachvelishvili, Michael Fabiano, Lucio Gallo, Christiane Karg u. a.

 

Regie: Martin Kuśej

 

Staatsopernchor

Staatskapelle Berlin/Daniel Barenboim

 

Aufführung am 10. März 2020 in der Staatsoper unter den Linden/Berlin

 

Photos: © Monika Rittershaus

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