Musik_Wiener Festwochen 2014
Karins Martyrium
Die Wiener Festwochen 2014 waren die ersten der Kurzintendanz Markus Hinterhäusers und sind einigermaßen gelungen. Die vom EVOLVER-Klassikexperten besuchten Aufführungen waren teilweise großartig und bahnbrechend - und dann wieder bestürzend belanglos.
24.06.2014
Die mit Abstand beste Produktion war Glucks "Orfeo", während Haas´ Oper "Bluthaus" und Thalheimers Produktion von Horvaths "Geschichten aus dem Wienerwald" einander an Uninteressantheit fast übertrafen.
Ödön von Horvaths Geschichten aus dem Wienerwald wurden 1931 in Berlin uraufgeführt, was zum Gedanken verleiten könnte, daß ein Berliner Theater das Werk deswegen "autorengerecht" spielt. Natürlich war (wie zu erwarten) beim Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin genau das Gegenteil der Fall.
Unter Regisseur Michael Thalheimer, den Librettisten- und Autorenanweisungen offenbar nur wenig interessieren, geriet das Meisterwerk aus den Zwischenkriegsjahren zur mittleren Katastrophe. Dabei hat Horváth hier so grandios die wienerische Bösartigkeit mit ihrer vordergründigen und oberflächlichen Freundlichkeit aufs Korn genommen ... Inspiriert durch Johann Strauß´ Walzer "Geschichten aus dem Wienerwald", verpackte der Autor in seinem Meisterwerk alle möglichen Klischees bis hin zur "Mariandl" aus der Wachau, die 1943 im musikalischen Lustspiel "Hofrat Geiger" wieder zu Ehren kam.
Mit der "Berliner Schnauze" der Schauspieler wurde niemals die bösartige wienerisch-österreichische Doppelbödigkeit getroffen; viele Sätze, die unter die Haut gehen sollten, waren eher zur Lächerlichkeit verdammt. Großartig waren jedoch Katrin Wichmann als unbedarfte Marianne und Andreas Döhler als schmieriger Alfred - auch in diesem unseligen Rahmen.
Trotz aller Professionaliltät von Librettist, Komponist und Regisseur war die Uraufführung der Version 2014 von Georg Friedrich Haas´ Oper Bluthaus ein veritabler Flop. In den ziemlich längsten 100 Minuten im Leben des EVOLVER-Klassikexperten wurde überausführlich die Geschichte der Studentin Nadja erzählt, die von ihrem Vater mißbraucht wurde, worauf Nadjas Mutter dann zuerst den Vater ermordet und dann sich selbst.
Haas ist ein hervorragender und hochprofessioneller Komponist und Instrumentator. Er weiß genau, wie er seine musikalischen Gedanken in Klänge umsetzen muß; er spezialisiert sich immer mehr auf Obertöne. (Anm.: Obertöne kommen aus den Schwingungsproportionen der Obertonreihe zustande und beeinflussen die subjektive Klangwahrnehmung ).
Doch es nützt halt nichts, seine musikalischen Vorstellungen als Selbstzweck zu instrumentalisieren, wenn die komponierte Musik bei einem Drama absolut selten mit der Handlung in Einklang gebracht werden kann. Haas´ Musik hätte auch zu irgendeiner beliebigen Geschichte gepaßt; assoziieren konnte man in dieser Uraufführung der neuen Version leider nur sehr wenig.
Brilliert haben in dieser langweiligen Produktion trotzdem das Klangforum Wien unter Peter Rundel und vor allem Sarah Wegener als Nadja, die die extrem schwierige Partie unvergleichlich interpretierte.
Der wahrhafte musikalische und emotionale Höhepunkt dieser Festwochen war Christoph Willibald Glucks Orfeo e Euridice in der unübertroffenen Interpretation des Orchesters B´Rock - Baroque Orchestra Ghent unter seinem Chef Jérémie Rhorer. Den französischen Dirigenten dürfte das gleiche Schicksal vieler hervorragender Maestri ereilen, indem er in der "großen" Musikstadt Wien völlig ignoriert wird. In dieser Aufführung bewiesen Rhorer und das Orchester, daß Originalklang und Klangzauber kein Widerspruch sein müssen. Im Gegensatz zu vielen Barock-Aposteln erzeugte Rhorer hier eine Klangsinnlichkeit ohne Ende, was gerade bei Glucks Musik, die eindeutig zu "Sturm und Drang" tendiert, mehr als eindrucksvoll zu hören war.
Der italienische Regisseur Romeo Castellucci machte aus der Oper, die zum größten Teil aus dem Martyrium Orpheus´ besteht, eine spezielle Umsetzung, wie sie bis jetzt in Wien noch nie zu sehen war. Mittels einer Live-Zuschaltung aus dem Geriatriezentrum Wienerwald wurden Eindrücke aus der Station vermittelt, wo sich die am apallischen Syndrom leidende Patientin Karin Anna Giselbrecht aufhält. Die 1989 geborene Karin erlitt 2011 in Bratislava einen Herzstillstand, der letztlich zu ihrer schweren Gehirnschädigung führte.
Castelluccis Ansatz ist nicht unrichtig, wenn er meint, daß sich apallische Patienten (also solche, die sich in einem Wachkoma befinden) in einer sogenannten Halb- bzw. Zwischenwelt befinden, und er das dem Zustand der in der Unterwelt befindlichen Eurydike gleichsetzt. Mittels Live-Kamera wurde der Zuseher bis in die Station zu Karin geführt, wobei die Bilder zumeist betont unscharf gezeigt wurden, um das Gefühl des Voyeurismus nicht allzu sehr hochkommen zu lassen. Einziger Kritikpunkt bei der Aufführung war die manchmal äußerst wackelige Kameraführung, bei der man als Zuseher mehr als nur einmal fast schwindlig wurde. Vielleicht könnte man "beckmesserisch" anmerken, daß die starken Bilder gelegentlich etwas zu sehr von der Musik ablenkten.
Der dritte Akt in der Oberwelt war dann bildmäßig unbeschreiblich schön und eindrucksvoll; die nackt badende Eurydike wurde hier von einem hübschen Model gespielt. Musikalisch lieferten Bejun Mehta als Orpheus, Christiane Karg als berührende Eurydike und vor allem Rhorer mit seinem Orchester eine denkwürdige Festwochenveranstaltung.
Der würdige Abschluß war die visualisierte Version von Franz Schuberts Winterreise, bei der Festwocheintendant Markus Hinterhäuser selbst am Klavier saß und den superben Bariton Matthias Goerne beeindruckend begleitete.
Der in Südafrika geborene Künstler William Kentridge schuf zu den 24 Liedern des Zyklus 24 beeindruckende Animationsfilme, die das Leiden und die unerwiderte Liebe des vom Dichter Wilhelm Müller geschaffenen Wanderers zeigen sollen. Wenn man Kentridges Biographie betrachtet, deren Fokus auf das Südafrika der Apartheid gerichtet ist, begreift man erst, warum in vielen der Filme akfrikanische Ureinwohner und deren Unglück dargestellt werden; so auch in Schuberts Meisterwerk "Der Leiermann", wo in beklemmenden Worten und Klängen der unwiderrufliche Tod beschrieben wird.
Es war großartig, wie Goerne Schuberts Worte und Noten mit seinem kostbaren Baß-Bariton in Klänge umsetzte. Nicht weniger superb wirkte sein Begleiter Hinterhäuser, obwohl dieser bei manchen Liedern etwas zu sehr "pedalisierte", was zeitweise durch die Verstärkung zu verschwommenen Klavierklängen führte.
Als ob sich der Kreis schließen sollte, besuchte die Apalliker-Patientin Karin die letzte Aufführung der "Winterreise". Mit einem Spezialrollstuhl ermöglichten es die Eltern, daß die sympathische junge Frau dieses großartige Konzert hören konnte. Der EVOLVER-Klassikexperte konnte ein paar Worte mit ihrem Vater sprechen und dadurch das ungewisse Gefühl des Voyeurismus als Zuseher bei der "Orfeo"-Aufführung loswerden. Er erfuhr, daß Karin schon im Ballett immer gerne auf der Bühne stand und sich gern in der Öffentlichkeit befindet. Und man sah ihr auch an, daß sie recht zufrieden wirkte.
Wir alle von der EVOLVER-Redaktion wünschen ihr ein glückliches und zufriedenes Leben.
Herbert Hiess
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