Musik_Urlaub in Polen - Health and Welfare

Kölner Konter

Das dritte Album des experimentierfreudigen Duos demonstriert mit Nachdruck, daß Neo-Rockbands aus Köln der "Hamburger Schule" um nichts nachstehen. Ganz im Gegenteil.    26.01.2007

Schon seit längerem gärt und brodelt es in Köln. Angeödet vom Ausverkauf der "Hamburger Schule", der von geistlosen Cash-&-Career-Bands (Wir sind Helden, Silbermond, Juli etc.) eifrigst betrieben wird, treten völlig neue Bands ans Licht der Öffentlichkeit. Sie sind jung, unangepaßt und singen, auch um sich vom Rest der deutschen Pseudoromantik deutlich abzugrenzen, Englisch.

Urlaub in Polen stellen unbestritten die Speerspitze der Kölner Konterrevolution dar. Mit ihrem neuen Album "Health and Welfare" stürmen sie unaufhaltsam die Indie-Charts - und so mancher Musikredakteur spricht dabei sogar von einem Wunder.

Das ist auch gar nicht übertrieben. Lange Zeit sah es ja so aus, als würden sämtliche ernsthaften Bestrebungen, eine postmodern- anspruchsvolle deutsche Popmusik zu etablieren, im allesverschlingenden Mainstream untergehen. Die aktuellen Veröffentlichungen zahlreicher Gründerväter dieser Bewegung, allen voran Blumfeld, schienen diese Befürchtung zu bestätigen.

Wer beim Vernehmen des Bandnamens Urlaub in Polen an eine rechtsorientierte Punk-/Ska-Abscheulichkeit denkt, assoziiert falsch - oder assoziiert vielmehr im Kontext der längst vergangenen 80er Jahre, als es noch einen Eisernen Vorhang gab und das Gespenst des Atomkriegs durch unsere Schulbücher fegte. Die Zeiten haben sich gottlob geändert. Warum sollte man also nicht einmal in Polen Urlaub machen? Auch dort gibt es die Ostsee und schöne Sandstrände, und wer weiß, vielleicht kann ein Abendspaziergang in der Warschauer Altstadt dem Reisenden wohlige Schauer über den Rücken jagen ...?

Oder die Dinge liegen ganz anders. Denkbar wäre es auch, daß die zwei Band-Mitglieder etwas wiedergutmachen wollen, das eine Generation vor ihnen verschlampt hatte. "Polen" kommt als Reizwort nur recht selten in deutschen Texten vor. DAF setzte dem deutschen Nazi-Einmarsch in Polen ein mehr als fragwürdiges Denkmal: "Die lustigen Stiefel marschieren über Polen" ("Die Kleinen und die Bösen", 1980). Urlaub in Polen hingegen fühlen sich hundertprozentig als Europäer; ihr Bandname könnte somit auch eine späte Geste der Versöhnung sein. Andererseits: Wen kümmert´s?

An der Musik der beiden Urlauber werden sich Schubladisierer jedenfalls die Zähne ausbeißen. Fast sieht es so aus, als bildeten die zwei ihre eigene musikalische Sphäre, so wie es etwa klassische Bands aus den 70er Jahren taten. Tatsächlich finden sich auf "Health and Welfare" gleich mehrere Querverweise auf legendäre Krautrocker wie Neu oder, noch besser, La Düsseldorf.

 

Die Band selbst gibt es schon seit 1999, von den einstigen Gründern ist nur mehr Georg Brenner übriggeblieben. In Jan Philipp Janzen, den er 2000 auf einem Konzert kennengelernt hatte, fand er schließlich einen ebenso kongenialen wie schlagzeugwütigen Partner. Innerhalb kürzester Zeit erarbeitete sich das Duo einen exzellenten Ruf als Liveband. Es kommt selten vor, daß zwei Musiker solch überbordende, noisige Klangwolken aus dem Ärmel schütteln können. Schon an der Instrumentenliste kann man ermessen, welcher Dekade sich die beiden zugehörig fühlen. Georg spielt Moog, Gitarre, Synthesizer, Echo und singt, Jan ergänzt das Sound-Panorama durch Schlagzeug, Sampling, Percussion und einen weiteren Moog. Im Idealfall gesellt sich noch Mark Witzel mit Super-8 -und Diaprojektionen dazu.

Den Schubladendenkern sei verraten, daß der Stil, der UIP prägt, bestenfalls als eklektizistischer Noiserock bezeichnet werden kann. Zu vielfältig sind die Strömungen, die in ihre Kompositionen einfließen. Der Opener "Zwo" ist ein industrialisiertes Intro, das dann nahtlos in "Wanderlust" übergeht. Georg Brenners Timbre liegt irgendwo zwischen Randy Newman und Dave Wyndorf (dem Sänger von Monster Magnet). Sein Sprechgesang spannt einen interessanten Bogen zu den sonderbaren Arrangements, die mitunter an die White Stripes erinnern - übrigens ebenfalls ein Duo.

Nach dem ruhig schunkelnden "Wanderlust" entlädt sich auf "Beatrice" erstmals Jan Phillip Janzens Faible für straighten 4/4, so wie es reifere Semester vielleicht noch von Klaus Dinger kennen. Viel Echo verziert Brenners seltsamen Gesang, ebenfalls eine Reminiszenz an den Seventies-Rock. Handelt es sich bei UIP um eine um 30 Jahre zu spät geborene Space-Rock-Band? Aber warum klingt das dann alles so zeitgemäß?

Völlig aus dem rockigen Rahmen fällt "D.T.W.I.L", ein misogynistischer Moritatengesang mit Vocoder-verzerrtem Gesang. Hier steigen erstmals düstere Nebelschwaden auf, und wir verlassen den festen Boden tradierter Musikgeschichte. Auf "A Case Of Getting from B to C" ackern sich Urlaub in Polen durch ein nostalgisches New-Order-Intro, um sogleich einen Refrain anzustimmen, der noch am ehesten an die längst vergessenen XCNN erinnert.

Zusammenfassend läßt sich behaupten: UIPs drittes Album steckt voll garstiger Überraschungen und bietet schier unendliche Exkursionen in Musikrichtungen vergangener Tage, ohne je alt zu klingen. Obendrein liefert es auch noch clevere Texte, die in unseren Köpfen weiterarbeiten. Bleibt unterm Strich eines der besten Indie-Alben der jüngeren Vergangenheit.

Ernst Meyer

Urlaub in Polen - Health and Welfare

ØØØØ


Tomlab/Soul Seduction (D 2006)

 

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