Musik_Thom Yorke - The Eraser

Apocalypse schau!

Der charismatische Frontman der Schon-lange-nicht-mehr- Pop-Tüftler Radiohead hat mit seinem ersten Solowerk das bislang beste Album des Jahres eingespielt.    22.08.2006

In Schwarz gekleidet und ganz allein steht er da. Hinter bodenlangem Mantel und breitkrempigem, tief ins Gesicht gerücktem Hut verbirgt er seine Identität. Der Magier auf dem Cover weiß: Die Welt ist nicht zu retten. Er hebt seine Hände und ruft ein Unwetter biblischen Ausmaßes herbei. Eine Sturmflut ergießt sich aus schwarzen Wolken, und dunkles Wasser verschlingt, was Menschenhände schufen. Die Metropolen gehen unter, wir sehen das Capitol und Big Ben davonschwimmen. Doch selbst in diesem Inferno gibt es Hoffnung. Der Eraser vernichtet nicht alles Leben auf dem Planeten: Ein kleiner schwarzer Hund klammert sich verzweifelt an ein Stück Treibholz.

Wer genau der schwarze Mann ist - ob Thom Yorkes Alter ego oder das oberste Wesen höchstselbst - bleibt der Interpretationsfreudigkeit des Betrachters überlassen. Fest steht jedoch: Fortwährende Band-interne Querelen bezüglich der Legitimation britischer Militäreinsätze im Irak trieben Yorke dazu, ein Soloalbum einzuspielen, gefüllt mit all jenen Stücken, die er im Radiohead-Umfeld bislang nicht umsetzen konnte. So findet sich auch ein Polit-Song auf "The Eraser" - für Radiohead immer eine Art Tabu. "Harrowdown Hill" ist nach dem Waldstück benannt, in dem der britische Waffenexperte David Kelly tot aufgefunden wurde, nachdem er das Geheimdienst-Dossier über den Irak öffentlich angezweifelt hatte. "When you´ve become incovenient, you will be dispensed with", heißt es da lakonisch.

Auch auf den übrigen Stücken spart Yorke nicht mit unheilvollen Botschaften. Ob in "Black Swan" ("You cannot kickstart a dead horse") oder "Analyse" ("Fences you cannot climb") - das Eingesperrtsein, die Einsamkeit werden förmlich greifbar.

Thom kann durchaus auf seine Band verzichten. Er ist auch solo wie kein zweiter in der Lage, perfekt unterkühlte Melancholie zu verbreiten, seine Isolation und seinen Weltschmerz in abwechslungsreiche Antipop-Songs zu verpacken. Umso schwerer verständlich ist es, daß "The Eraser" innerhalb kürzester Zeit auf Platz drei der UK-Verkaufscharts kletterte. Thom Yorkes Soloalbum ist nämlich nicht nur überdurchschnittllich anspruchsvoll, sondern auch sehr sehr verschroben und bestimmt nicht hitparadentauglich.

Angesichts nie endenwollender Kriege, grassierender Hungersnöte und voranschreitender Entmenschlichung/Teilnahmslosigkeit der westlichen Zivilisation ist die Zeit reif für solch apokalyptische Visionen - die sich ohnehin seit jeher wie ein roter Faden durchs Radiohead-Œuvre ziehen.

Musikalisch setzt Yorke auf "The Eraser" auf dehydrierte Elektronik und zart gesponnene Melodien, die sich wie kleine Bäche in einen großen Fluß ergießen, ehe dieser als maligner Strudel jäh im Boden verschwindet. Er negiert bei seinen Experimenten jegliche Pop-Struktur und bastelt filigrane Mäander, deren Komplexität im Verlauf der Songs zunimmt - schlicht faszinierend und teuflisch luzide. Mit seiner Skalpell-Stimme zerschneidet er dann die Spinnweben seiner Kompositionen. Das geht garantiert unter die Haut.

Ohne je zu predigen oder in billigen Metaphern zu schwelgen, hält Thom Yorke der Menschheit den Spiegel vor. Er zeigt uns eine Welt im langsamen Zerfall: unsere.

Ernst Meyer

Thom Yorke - The Eraser

ØØØØØ


XL Recordings/edel (GB 2006)

 

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