Musik_Semele

Cecilia und die Weltkugel

Gleich die Eröffnungspremiere der Saison 2010/2011 war für das Theater an der Wien ein großer Wurf – wenn nicht der größte seit Beginn der Ära Geyer. In einer hochintelligenten Inszenierung bewies der Kanadier Robert Carsen, daß Barockoper überhaupt nicht langweilig sein muß. Und Hauptdarstellerin Cecilia Bartoli erwies sich, wenig überraschend, wieder einmal als phänomenales Stimmwunder.    24.09.2010

Normalerweise erzählen die heutigen Opernrezensionen zu 80 Prozent über die Regie und zu höchstens 20 Prozent über die Musik. Bei Robert Carsens aktueller Inszenierung von Händels "Semele" fühlt man sich verleitet, es ihnen gleichzutun. Doch dieses Unterfangen wäre sowieso sinnlos, da eine derart exzellente Regie im wahrsten Sinn des Wortes "unbeschreiblich" ist.

Der Kanadier machte aus dem Werk mit der mythologischen Handlung eine phantastische Erzählung mit viel Symbolik. In einer minimalistischen Ausstattung mit vielen intelligenten Lichteffekten und nachahmenswerter Personenführung wurde die eigentlich sperrige Geschichte trotz ihres tragischen Ausgangs mit viel Witz und Koketterie erzählt - da "Semele" eigentlich ein Oratorium ist, ist Carsens Leistung noch höher einzuschätzen.

 

Keiner kann die gut inszenierte Handlung besser umsetzen und spielen als die einzigartige Cecilia Bartoli. Sie trägt das Werk mit ihrem natürlichen Charisma, ohne die anderen Sänger überstrahlen zu wollen. Man weiß gar nicht, ob man sie als Alt, Mezzo oder Sopran bezeichnen soll; sie beherrscht alle drei Stimmlagen wie einst nur Jessye Norman, Leontyne Price und Marilyn Horne. Bartoli zieht bei "Semele" sämtliche Register ihres Könnens; sie spielt mit den Koloraturen, als wären sie das Einfachste auf der Welt. Ihre Physiognomie beim Singen ist vielleicht gewöhnungsbedürftig, was aber bei ihrer Leistung sowieso kein Thema ist.

Die anderen Rollen waren hervorragend besetzt; allen voran Birgit Remmert als keifende und zänkische Juno und die Schwedin Malena Ernman als Ino.

 

Ein ganz anderes Thema ist das Barockensemble Les Arts Florissants unter seinem Chef William Christie. Für Barockfreunde sind diese Musiker ohnehin eine nicht mehr wegzudenkende Institution. Was sie aber aus diesem Barockstück machten, hat man in Wien noch äußerst selten gehört. "Semele" ist, ja wie gesagt, ursprünglich als Oratorium ausgelegt, in das Händel dementsprechend viele Elemente wie Fugen, Choräle usw. hineinkomponiert hat. Christie schaffte mit seinen Musikern trotzdem den Spagat, die Bühnenspannung zu halten, ohne den Oratorienbezug zu verlieren. Hut ab vor den Pianissimi, die dieses Ensemble produzierte - und Hut ab vor dem Schoenberg-Chor, der hier einmal äußerst präzise und musikalisch sang, bis hin zum fast gehauchten Pianissimo!

 Händels Werk ist bezüglich Klangfarben und Harmonien äußerst fortschrittlich komponiert. Das (leider) kurze Duett zwischen Semele und Ino aus dem zweiten Akt antizipiert schon kräftig Rossini und Bellini, die erst Jahrzehnte nach der Uraufführung (1744) geboren wurden.

Die Geschichte von der Gier eines jungen Mädchens hinterläßt trotz ihres "Unhappy Ends" dank Robert Carsens genialer Hand keinen Pessimismus. Die vielen Apelle an die Moral werden ohne lehrmeisterlichen Fingerzeig subtil gezeigt. Der beeindruckendste Moment war der Schluß des zweiten Akts, wo Jupiter (Zeus) Semele die Weltkugel überreicht und sie damit spielt, als sähe sie sich schon als Beherrscherin der Erde.

Herbert Hiess

Georg Friedrich Händel - Semele

ØØØØØ

Oratorium in drei Akten

Leserbewertung: (bewerten)

Theater an der Wien

 

Les Arts Florissants/William Christie

 

Besetzung:

Cecilia Bartoli, Charles Workman, David Pittsinger, Malena Ernmann, Birgit Remmert, Matthew Shaw, Kerstin Avemo

 

Arnold Schoenberg Chor

Links:

Kommentare_

Musik
Weihnachtliche Musiktips im Corona-Jahr

Geschenktips für Klassikfreunde

Hören darf man heuer auch ganz ohne Maske. Grund genug für den EVOLVER-Klassikexperten Herbert Hiess, seine Musiktips für die Weihnachtszeit unter den virtuellen Christbaum zu legen.  

Musik
Orchesterkonzert der Wiener Philharmoniker

Seltsame Zeiten

Nicht nur Thomas Angyan, der zukünftige Ex-Chef des Wiener Musikvereins, hätte sich den Abschluß seiner Karriere - ebenso wie Staatsoperndirektor Dominique Meyer - anders vorgestellt. Wie so viele Kulturschaffende gingen beide der angeblichen Pandemie in die Falle.  

Print
Rudolf Buchbinder im Interview

Reise durch den Beethoven-Kosmos

Wer Rudolf Buchbinder ist, braucht man eigentlich niemandem mehr zu erklären. Der sich im 74. Lebensjahr befindende Star-Pianist ist in Kulturkreisen weltweit ein Begriff - und vor allem in Sachen Beethoven eine Kapazität, an der man nicht vorbeigehen kann und darf.  

Musik
Wiederaufnahme in der Berliner Staatsoper

Carmen in der Corona-Krise

Pech oder Schicksal - wie auch immer man es bezeichnen mag: Daß die großartige Berliner "Carmen" schon nach der zweiten Aufführung von Amts wegen gestoppt werden musste, hätte sich niemand gedacht. Jetzt kann man sie wohl einige Zeit nur als Stream oder Aufzeichnung betrachten. Die Staatsoper unter den Linden zeigt mit ihr jedenfalls, daß sie dank ihrer hervorragenden Musiker viele der angeblichen Spitzenhäuser übertrifft.  

Stories
"Der Vorname" in den Kammerspielen

Makabre Wohnzimmerkomödie

Wie Political Correctness als brutale Verlogenheit entlarvbar ist, zeigt das Stück "Der Vorname" des Autorenduos Patellière und Delaporte. Herbert Hiess hat es in den Kammerspielen erlebt.  

Musik
Last-Minute-Ideen für Klassikliebhaber

Weihnachtliche CD-Tips aus Wien

Alle Jahre wieder ... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der "Streß", der oft zu Geschenkskäufen in letzter Minute führt. Um Verlegenheitsgaben wie Socken oder Bonbonnieren zu umgehen, hat der EVOLVER-Klassikexperte einige Tips zusammengestellt, die nicht nur eingefleischten Klassikliebhabern Freude bereiten werden.