Musik_Barock und mexikanisch
Das letzte Geschenk
Sowas nennt man eine vorweihnachtliche Bescherung: An zwei aufeinanderfolgenden Abenden wurden eine Opernvorstellung und ein Barockkonzert serviert, wie das die meisten Veranstalter nicht einmal in einer Saison zuwege bringen. Als am Sonntag Star-Dirigent William Christie den Star-Tenor Placido Domingo vom Vorabend ablöste, war das einfach fabelhaft. Und das beste Mittel gegen den geballten Weihnachtsirrsinn ...
30.12.2010
So begab man sich also am Vorabend des vierten Adventsonntags ins Theater an der Wien, um Daniel Catáns Oper "Il Postino" zu sehen. Das Werk des 1949 geborenen mexikanischen Komponisten wurde im September 2010 in Los Angeles uraufgeführt und konnte schon jetzt in Wien gesehen und gehört werden.
Die Oper basiert auf dem gleichnamigen Film und einer Novelle von Anton Skármeta. Catáns Musik ist spätromantisch und sentimental; sie erinnert des öfteren an Francesco Cilea und Umberto Giordano. Viele besserwisserische Feuilletonisten sind sofort wie blutrünstige Tiere verbal über den Komponisten hergefallen; trotzdem muß man für Catáns Musik eine Lanze brechen. Zeitgenössische Musik ist nicht nur dann intellektuell, wenn sie für den Durchschnittshörer unverständlich ist.
In einer derart großartigen Produktion mit einer ebensolchen Regie ist Catáns Musik genau das richtige Fundament für diese Oper. "Il Postino" ist in Spanisch komponiert; der italienische Titel rührt daher, daß die Oper auf einer Fischerinsel in Italien spielt.
Sie handelt vom chilenischen Volks- und Freiheitsdichter Pablo Neruda (gespielt und gesungen vom einzigartigen Plácido Domingo), der auf dieser Insel sein Exil verbringt. Dort lernt er Mario Ruppolo - einen jungen Postboten mit einer poetischen Ader - kennen und unterweist ihn in die Künste der Poesie. Mit Hilfe seiner neuen Kenntnisse becirct Ruppolo Beatrice, die er dann heiratet und mit ihr ein Kind hat. Ein paar Jahre danach kehrt Neruda nach Chile zurück. Als er später wieder nach Italien kommt, erfährt er von Beatrice, daß Ruppolo bei einer kommunistischen Versammlung erschossen wurde.
Die Regie von Ron Daniels war exzellent. Für den EVOLVER-Klassikexperten war diese Inszenierung die erste, bei der Filmprojektionen nicht "aufgesetzt" wirkten, sondern ein fester Bestandteil des Regiekonzepts waren. Verantwortlich für die Einspielungen zeichnete Philp Bussmann. Das Team brachte es fertig, die Handlung (die sich über mindestens sieben Jahre erstreckt) so kunstvoll ablaufen zu lassen, daß kein brutaler Schnitt bemerkbar war.
Die Sänger der Produktion waren alle absolut hervorragend, angefangen von der Beatrice (gesungen von Amanda Squitieri) bis hin zu Ruppolo (Israel Lozano). Obwohl Lozanos Tenor bestens geführt war und der Sänger aus Madrid mit einem besonderen Timbre aufwarten konnte - neben einem Plácido Domingo wirkt auch der größte Tenor immer noch "klein". Der Star beweist mit seinen 70 Jahren (manche sagen, er sei noch älter), daß er auch heute noch völlig unerreichbar ist. Natürlich hat Catán die Oper für ihn geschrieben, und sie geht nicht über das hohe A hinaus. Aber mit welchem Schmelz, welcher Intensität und Schauspielkunst Domingo diese Rolle interpretiert - hier merkt man, daß er als Künstler ein unerreichtes Unikat ist.
Unvergeßlich ist auch der Schluß der Oper. Wie in der TV-Serie "Cold Case" erscheint der verstorbene Ruppolo Pablo Neruda, und vor einem nachtblauen Hintergrund verschmelzen beide Tenöre zu einer unvergleichlichen Stimme. Das nennt man große Oper auf der Bühne der Gefühle. Nicht zu vergessen sei der spanische Dirigent Jesús Lopéz-Cobos, der die Wiener Symphoniker mit höchster Transparenz führte. Schon lange hat man das Orchester nicht mehr so perfekt spielen gehört. In Anbetracht dieser Leistung war der spärliche Applaus für Orchester und Dirigent am Schluß geradezu eine Schande.
Am Tag darauf eröffneten William Christie und seine Les Arts Florissants inoffiziell das "Rameau-Projekt" im Theater an der Wien. Dieses Projekt verkündetete Intendant Roland Geyer so nebenbei, als er bekanntgab, daß im Act de Ballet "Anacréon" die Titelpartie von drei Chorsängern gesungen worden war, da Alain Buet an einer Kehlkopfentzündung erkrankt war.
Das störte auch überhaupt nicht, da William Christie und seine französischen Sänger und Musiker eine (Welt-)Klasse für sich sind. Mit enormer Qualität und Spielfreude bewiesen die Musiker, daß Musik im Originalklang sehr wohl Gefühle und Leidenschaft ausdrücken kann. Mit Solisten wie Sophie Karthäuser, Emanuelle de Negri und vor allem dem herausragenden Tenor Ed Lyon konnte das Ensemble trotz einer konzertanten Aufführung großartige Bühnenstimmung vermitteln.
Jean Philippe Rameau lebte von 1683 bis 1764 und war Hofkomponist von Ludwig XV. Er wirkte nicht nur als Komponist, sondern auch als glänzender Musiktheoretiker. Ähnlich wie im Falle Mozart und Salieri hatte auch Rameau einen Erzfeind - nämlich Jean Baptiste Lully. Während Lully der konservativere Komponist war, zog es Rameau zur Moderne hin.
Die beiden im Theater an der Wien aufgeführten Actes de Ballet "Anacréon" und "Pygmalion" sind typische Beispiele höfischer Gebrauchsmusik im französischen Stil. Es gab und gibt in Frankreich keine klassische Musik ohne Tanz und Ballett. Natürlich mußte Rameau die Musik "gefällig" (vor allem in Hinblick auf den französischen Hof) schreiben, doch er ließ keine Möglichkeit aus, pointierte Rhythmen und (für die Barockzeit) schräge Harmonien in die Gavotten, Bourrées und Gigues einzuflechten. Großartig, wie da hohe Flöten und Schlagwerk zur tänzerischen Musik zum Einsatz kommen.
William Christie bezauberte mit den Les Arts Florissants und Rameaus Klängen das Publikum im Theater an der Wien - so sehr, daß sich die Leute den Finaltanz als Zugabe erklatschen konnten. Der Abend war eine exzellente Eröffnung für das Rameau-Projekt, das im Theater an der Wien im Jänner mit der Oper "Castor et Pollux" seine Fortsetzung finden soll.
Herbert Hiess
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