Musik_Non Toxique Lost - Bin/Med/USA

Stil ist irrelevant

Eine wiederauferstandene deutsche Kultband zeigt den Jungspunden, wo der Bartel den Most herholt. Diesmal nicht nur auf Kassette.    13.06.2005

Non Toxique Lost wurden 1980 von vier bereits aktiven Musikern in Berlin (wo sonst?) gegründet. Sea Wanton, Achim Wollscheid und S. Schütze treffen auf einen Punk namens Pogo, der bei einem Throbbing-Gristle-Konzert deren Sänger Genesis P-Orridge das Mikro entreißt und "You need discipline" hineinschreit. Wie so viele andere rufen auch sie mit einer gehörigen Portion DIY-Ästhetik ein Kassettenlabel ins Leben und beginnen, erste eigene Aufnahmen herauszubringen.

Das Wort "Lost" aus dem Bandnamen entstammt übrigens nicht vom englischen Begriff für "verloren", sondern bezieht sich auf ein Giftgas, das von den Deutschen im Ersten Weltkrieg verwendet wurde. Von Anfang an sehen sich NTL als politische, experimentell-elektronische Band mit der Maxime "Stil ist irrelevant". In ihrer ersten Aktivitätsphase erscheint nur ein Vinyltonträger, alles andere Material verstreut sich auf heute völlig unauffindbare Kassetten. Die Platte übrigens erschien damals ebenso nur in eine Auflage von genau 100 Stück, Suchen ist also so gut wie zwecklos.

Seit kurzer Zeit sind NTL wieder aktiv – und zwar aktiver als je zuvor. Auf den deutschen Labels Vinyl-on-Demand und Wachsender Prozess kamen vor kurzem zwei LPs mit Archivmaterial heraus, und auch eine CD namens "Siga Siga" ist seit einiger Zeit erhältlich. Am erfreulichsten aber ist die Tatsache, daß die Band auch neues Material produziert, und dieses ist auf der eben erschienenen CD "Bin/Med/USA" zu hören.

Darauf präsentieren Non Toxique Lost eine unwahrscheinliche Fülle elektronischer Sounds. Von brutalen Elektrobeats über 80er-lastige Industrial-Collagen bis hin zu fast poppig anmutenden Kraftwerk-Sounds ist auf dem Album alles vertreten. Natürlich fehlt auch heute nicht das politische Statement (siehe Titel) und die Kritik an der Geschichte wie auch Gegenwart des eigenen Landes ist nicht zu überhören. "In Buchenwald wächst das Grauen des Vergessens", intoniert Sea Wanton auf der gleichnamigen Nummer. "Ich bin verloren, bin vergessen", eine andere Textzeile, erinnert an die Neubauten und den Berliner Pessimismus der frühen Achtziger Jahre.

Alles in allem bietet "Bin/Med/USA" eine erstaunliche Bandbreite elektronischer Klänge von damals bis heute. Es ist rhythmischer als ältere Aufnahmen der Band, ohne jedoch nur nach 2005 zu klingen. Non Toxique Lost sind eine Band, die es definitiv wiederzuentdecken gilt. Und ausnahmsweise liegt das britische Magazin "The Wire" einmal daneben, wenn es meint, es wäre nicht verwunderlich, daß sich Achim Wollscheid nicht mehr fuer seine alte Band interessiert. Denn so spannend wie diese CD hat eigentlich schon lange nichts geklungen.

Walter Robotka

Non Toxique Lost - Bin/Med/USA

ØØØØØ


Dossier Records (D 2005)

 

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