Musik_Nickelback - The Long Road

Willkommen im Hauptabendprogramm!

Die Klischees scheinen zu stimmen: Kaum haben Spät-Grunger einen Hit, verwandeln sie sich auch schon in Radiolieferanten, die Britney Spears Konkurrenz machen wollen.    24.10.2003

Es passiert immer wieder. Es verändert dich und manchmal auch deine ganze Band und selbst deine generelle Herangehensweise an die Musik. "Es" ist der große kommerzielle Erfolg, die Gewißheit, dein Gesicht zehnmal am Tag auf MTV zu sehen, die Einladungen zu den Award-Shows, das dauernde Erkanntwerden auf der Straße und tonnenweise kreischende, pubertierende Groupies auf deinen Konzerten. Die Frage lautet: Wie gehst du damit um? Machst du es so wie Linkin Park, die sich komplett ausverkauften? Oder so wie HIM, die kurzzeitig strauchelten, um dann ihren Weg wiederzufinden? Oder etwa so wie Papa Roach, die nicht mitspielten und mit ihrer zweiten Platte so gut wie in der Versenkung verschwanden?

Nickelback, sagen wir es ruhig in aller Deutlichkeit, waren nie eine wirklich gute Band, sondern vielmehr ein mittelmäßiges Relikt, eine Mischung aus 80er-Metal-Hardrock und Grunge-Vocals. Doch letztere wurden plötzlich wieder hip und spülten eine Menge Bands an die Oberfläche, auf die man getrost verzichten hätte können. Dann kam mit "How You Remind Me", wie das eben so läuft, plötzlich der große Hit, der nicht einmal so übel gewesen wäre, hätte man ihn nicht werktags und an Wochenenden unentwegt via Radio, Fernsehen und Szenelokalbeschallung ertragen müssen. Womit wir eigentlich beim neuen Nickelback-Album "The Long Road" gelandet wären, das total im Windschatten des großen "Silver Side Up"-Hits konzipiert wurde. Das Ergebnis ist leider Selbstprostitution und eine Anbiederung an den Mainstream, bei der sich Kurt Cobain im Grabe umdreht.

Schon die erste Auskopplung "Someday" (Nr. 2 in den deutschen Airplay-Charts) macht alles klar: kein Risiko. Midtempo, seichte Gitarren, die im ideal mitsummbaren Refrain etwas krachen dürfen, sich aber sonst zurückhalten. Die Saiten geben der Stimme von Chad Kroeger den idealen Raum, um die Herzen von Radiohörern überall im deutschen Sprachraum "verzaubern" zu können. Genau dort kommt die Band nämlich wieder, gleich nach dem neuen Song von Eros Ramazzotti, wie kürzlich auch im ZDF zu beobachten war.

Was es auf "The Long Road" an Hörenswertem gibt? Ziemlich wenig. Die meisten Tracks pendeln irgendwo um die Achse eingängig, mittelhart, mittelschnell und vor allem mittelmäßig. "I´m Feeling Way to Damn Good" singt Kroeger im gleichnamigen Song. Man hört es ihm an. Lediglich das anschließende, mit ein paar New-Metal-Gitarren versehene "Because of You'" und die Vollblutballade "Should´ve Listened" sind einigermaßen genießbare Standard-Songs von einer früher einigermaßen hörbaren Band, die in dieser Form allerdings niemand mehr braucht. Richtig unerträglich wird es aber erst gegen Ende, wenn Nickelback mit "Another Hole in the Head" auch noch textliche und musikalische Nähe zu Alice in Chains suggerieren wollen. Hier hat jemand Grunge so richtig mißverstanden.

Alles in allem ist "The Long Road" ein mehr als nur flüssiges Album. Elf potentielle "Hits" im 3-Minuten-Radio-Format, Melodien und Riffs, die an Austauschbarkeit und Verwertbarkeit für alle Zielgruppen kaum zu überbieten sind, und laut Sticker offenbar schon genau feststehende drei Single-Auskopplungen, bei denen sich die 14jährigen Mädels unterm Weihnachtsbaum garantiert die Seele aus dem Leib rocken werden. Heutzutage muß wohl selbst erfolgreiche Rockmusik strukturell und melodietechnisch wie zuckersüßer Britney-Pop klingen.

Die CD wird mit strategisch geplanter Sicherheit ein Riesenerfolg. "Wetten, daß..."-Mission erfüllt. Play it again, Chad.

Sebastian Baumer

Nickelback - The Long Road

Ø 1/2


Roadrunner/Musica (Kanada 2003)

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