Musik_Klassik-Neuerscheinungen in Ton und Bild
Schales Katerfrühstück
Auch heuer überschlugen sich die Tonträgerkonzerne wieder mit den musikalischen Neuerscheinungen zu Jahresbeginn. Der EVOLVER-Klassikexperte ließ sich nicht von der Hektik anstecken, hörte und schaute sich das Gebotene in aller Ruhe an - und kann nun über ein langweiliges Wiener Neujahrskonzert und zwei großartige Mitschnitte von deutschen Konzerten berichten.
27.01.2011
Mittlerweile werfen die Medienkonzerne nicht nur das Neujahrskonzert knapp innerhalb einer Woche auf den Markt, sondern auch die Silvesterkonzerte von Berlin und Dresden. Früher brachte die EMI den Mitschnitt der Berliner Veranstaltung heraus; heuer war die Deutsche Grammophon mit der Veröffentlichung einer DVD nicht nur des Dresdner, sondern auch des Beliner Musikereignisses an der Reihe.
Die Resultate könnten unterschiedlicher nicht sein: Dirigent Gustavo Dudamel brillierte mit dem Starmezzo Elina Garanca und einem spanischen Programm in Berlin, während Christian Thielemann mit Ausschnitten aus der "Lustigen Witwe" von Franz Léhar in Dresden zu seiner musikalischen Vergangenheit zurückkehrte und Operettenliebhabern neue Dimensionen eröffnete. Der neue Chefdirigent des deutschen Traditionsorchesters in Dresden dirigierte in seinen Anfängen oft genug Operetten und zeigte bravourös, daß Léhars Operette gar nicht in einen musikalischen "Zuckerguß" gehüllt werden muß; sie ist sowieso ein Kunstwerk ersten Ranges. Thielemann hatte es mit superben Sängern wie Renée Fleming als Hanna Glawari und Christopher Maltman als Danilo auch leicht. Bis jetzt haben nur Herbert von Karajan und Sir John Eliot Gardiner dieses Werk so exemplarisch interpretiert.
In Wien mußte man am 1. Jänner 2011 hingegen ein besonderes Neujahrskonzert über sich ergehen lassen - sofern man nicht vorher den Aus-Knopf betätigte. Besonders war die Darbietung insofern, als der neue Generalmusikdirektor von Wien (kurz GMD genannt) mit Hilfe seines "Networks" relativ rasch zu diesen philharmonischen Ehren kam. Und natürlich kann es nicht schaden, wenn der kluge Taktierer und "Networker" die ganze Presse hinter sich weiß. Nun ja, natürlich wurde alles schöngeredet und -geschrieben und -zelebriert. Nur hat niemand bedacht, daß sich das "gemeine" Publikum nicht täuschen läßt und oft ein besseres Gespür hat als die sogenannten Experten. Wenn man im Internet die Postings zu den hymnischen Ergüssen mancher Rezensenten liest, spürt man geradezu erdrückend die wahre Meinung des Volkes.
Selbstverständlich ist Geschmack Privatsache; es fiel jedoch auf, daß die großartigen und souveränen Wiener Philharmoniker recht bald das Ruder an sich rissen und bestenfalls taktmäßig vom anticharismatischen GMD geführt wurden. Jede Interpretation fehlte komplett, bei den großen Walzern wie "Donauweibchen" oder "Die Schönbrunner" waren holprige und inhomogene Übergänge mehr die Regel denn die Ausnahme. Daß die Polkas und Märsche von alleine "rennen", ist völlig klar, wobei man sich bei manchen Stücken doch mehr Differenzierung erwartet hätte. Wenn man noch in Erinnerung hat, wie Karajan, Maazel, Kleiber und Harnoncourt mit Nuancen und Pointen um sich warfen, weiß man erst, was am 1. Jänner 2011 fehlte.
Die Philharmoniker haben dem GMD mit diesem Engagement nichts wirklich Gutes getan. Eine mißlungene Opernpremiere (wie z. B. unlängst der "Don Giovanni" in der Staatsoper) sieht und hört nur ein überschaubarer Personenkreis - das Neujahrskonzert aber wird von fast einer Milliarde Menschen verfolgt. Hier kann sich der Ruf eines Dirigenten sehr schnell manifestieren, und dann haben auch die konzertierten "Schön-Schreiber" keine Chance mehr, ihn zu reparieren. Schade. Franz Welser-Möst hätte ja eigentlich all das Rüstzeug (Schlagtechnik, großes Repertoire usw.) für einen Weltstar vom Range eines Karajan. Nur dieses Mal "schmeckte" das Neujahrskonzert halt leider wie ein Gulasch ohne Paprika.
Herbert Hiess
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