Mira Calix - Eyes Set Against The Sun
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Warp/edel (GB 2007)
Die Elektronik-Künstlerin Chantal Passamonte führt uns diesmal in die englischen Wälder. Doch ihr drittes Album ist mehr als bloß eine akustische Wanderkarte. 14.03.2007
Es gibt (leider) nach wie vor nur wenige Künstlerinnen, die im Bereich experimenteller elektronischer Musik tätig sind. Chantal Passamonte alias Mira Calix ist eine dieser Ausnahmeerscheinungen. Sie setzt die Tradition der Musique concrète fort, kombiniert sie mit Erzählstrukturen à la Laurie Anderson und schafft mit typisch weiblichem Erfindungsreichtum ihre eigene, ganz private Klangwelt. Schön, daß wir daran teilhaben dürfen! Calix-Musik zu hören ist ein ganz privates Erlebnis; man hat fast das mulmige Gefühl, sich unaufgefordert in ihre Intimsphäre einzumischen. Das liegt nur zum Teil an der hermetischen Natur elektronischer Musik. Mira Calix ist, wie gesagt, eine Frau. Und so ist auch die Welt, die sie beschreibt, eine weibliche - extrem phantasievoll und östrogenbetont, wenn man so will.
Um ihre Welt zu erschaffen, bedient sie sich recht altmodischer Technologien: "field recording", Sampling, "prepared piano" und DSP (digitale Signalprozessoren). Um die daraus resultierenden kristallinen Strukturen anderen verständlich zu machen, arbeitet sie mit einer durchdachten Musiksyntax, die sich nicht jedem erschließt.
Am Anfang herrscht Ratlosigkeit: Auf dem Cover finden sich keinerlei Zeichen, keine Codes, die helfen würden, die Intention oder den Stil von Mira Calix zu erklären - zumindest nicht auf den ersten Blick. Doch wer genauer hinsieht und -hört, entdeckt den einen oder anderen Hinweis. Da wäre zunächst einmal die Illustration, die einen Tisch zeigt, aus dessen Mitte eine riesige Rose ragt. Weil die Blume besonders schnell gewachsen ist, hat sie den Tisch und den Sessel umgeworfen, vielleicht auch den Menschen, der darauf saß. Hier ein Plädoyer für die Rückkehr zur Natur herauszulesen, ist einfach; wir alle kennen ja auch den "Holz lebt"-Slogan aus dem heimischen Werbefernsehen. Und schon sind wir auf der richtigen Spur.
Chantal übersiedelte vor vielen Jahren aus Südafrika nach England. Sie brachte eine gehörige Menge ursprünglicher Musikalität sowie eine ungetrübte Liebe zur Natur mit - Eigenheiten, die seit jeher fixer Bestandteil ihrer elektronischen Kompositionen sind. Genaugenommen ging es immer um die klangliche Darstellung ihrer Innen- und Außenwelt, soll heißen: das antagonistische Zusammenwirken von Umwelt und Individuation. Auf früheren Alben traten tiefe Beklommenheit und mehrheitlich obsessiver Isolationismus zutage ("One On One"). Doch ihre Naturverbundenheit gewann im Lauf der Jahre die Oberhand und holte sie aus den Tiefen der vermeintlichen Depression hinaus an die Sonne. Vielleicht sollte man ihre Kompositionen daher auch als Musiktherapie begreifen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird klar, warum ihre Musik uns mit schier tödlicher Präzision immer genau dort packt, wo unsere Seele oder Psyche sitzt. Die Kompositionen sind "authentisch", spontan und entstehen immer direkt aus ihrer jeweiligen Gefühlsverfassung heraus. Selten ist es möglich, dermaßen transparent das Innenleben eines Künstlers zu betrachten. Und wir wissen ja: Wenn wir lange genug in den Abgrund blicken, blickt der Abgrund irgendwann auch in uns.
Auf ihrem nun vorliegenden dritten Album (oder dem vierten - je nachdem, ob man "3 Commissions" mitrechnet oder nicht) nimmt uns Chantal an der Hand und führt uns in die Wälder ihrer Wahl- und Waldheimat Suffolk. Sie bewerkstelligt ihre moderne Form von Programm-Musik, indem sie auf ihren Wanderungen stets einen Recorder mitnimmt. Doch anstatt die aufgenommen Geräusche (bloßfüßiges Stapfen auf Laub, Wind in den Ästen, Regenprasseln, Schneeflüstern etc.) zu Hause in rhythmische Teilchen zu zerlegen (wie das etwa die artverwandten Frickler Matmos praktizieren), legt Calix ihre "found sounds", die in Wahrheit eigentlich "found structures" sind, wie einen Teppich unter ihre mantrischen Konstruktionen. Darüber schichtet sie mit unendlicher Geduld Sediment um Sediment. Prepared piano, elektronische Entladungen und ein Kinderchor sind nur einige der Ingredienzen, aus denen Mira Calix (vielleicht ist nicht nur ihr Künstlername von Miraculix, dem weisen "Asterix"-Druiden, inspiriert) so gekonnt und wissend ihre Zaubersuppe kocht.
Zauberhafte Erlebnisse finden sich auf "Eyes" genug. Hört man sich Songs wie "Protean" oder "Belonging" aus der Entfernung an, schimmern über den Ambient-Soundscapes helle Objekte, durchaus vergleichbar mit Äolsharfen. Einzelne Lichtstrahlen brechen durch den Nebel und verscheuchen das Morgengrauen. In Miras eigenen Worten besitzt "Eyes Set Against The Sun" eine gelbe Kolorierung. Das paßt auch zu den gelben Lettern am Cover, ist dies doch die Farbe, die wir mit geschlossenen Augen sehen, nachdem wir in die Sonne gestarrt haben.
Manche Passagen erzeugen gelungene Landschaften im Sinne einer originären Folk-Musik, zu finden etwa in dem elfminütigen zentralen Stück "The Way You Are When". Hier lassen sich sogar Parallelen zu Benjamin Britten herstellen. Das überrascht wenig, ist Mira Calix doch schon seit einigen Jahren über das von Britten gegründete Aldeburgh-Festival in zahlreiche semiklassische Kompositionen involviert.
"Eyes Set Against The Sun" ist als CD und als ein auf 300 Stück limitiertes Doppelabum erhältlich. Das Vinyl ist der CD in diesem Fall vorzuziehen, da sich darauf deutlich mehr analoge Wärme (gelb) entfaltet, die auf der CD aufgrund klinischer Sterilität leider häufig verlorengeht.
Fazit: Das neue Album von Mira Calix verlangt selbst routinierten Elektronik-Fans viel ab. Einmal anhören reicht bei weitem nicht aus. Wer es sich jedoch öfter zu Gemüte führt, wird bei jedem weiteren Mal neue Zutaten, neue Schichten und garantiert neue Klänge entdecken. Es ist eine Entdeckungsreise, die sich auf jeden Fall auszahlt.
Mira Calix - Eyes Set Against The Sun
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Warp/edel (GB 2007)
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