Musik_Lomov - Holzwege

Musique Bionique

An der Schnittfläche von Digital Composing, Dark Ambient und Industrial entstehen faszinierende Klangwelten. Wie auf diesem Album, das noch dazu gratis downzuloaden gibt.    07.04.2005

Zahlreiche Philosophen machten sich Gedanken über die Natur des Waldes, stellvertretend für die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Ernst Jünger ("Der Waldgang") sinnierte über die menschliche Wahrnehmung der Realität ebenso wie etwa Martin Heidegger. Letzterer steht auch für Lomovs Albumtitel "Holzwege" Pate. Lomov aka Axel Bergk studierte Philosophie, sein Fachgebiet ist die Erkenntnistheorie. So wundert es niemand, daß sein CD-Begleittext etwas hochgebildet und eklektizistisch daherkommt. Lomovs bionisches Konzept der Imitation echter "Field Recordings" soll den Hörer anregen, seine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Kann unser Gehör zwischen echten Feldgrillen und Software-generierten unterscheiden? Wie erkennen und verarbeiten wir Realität?

Wem die wissenschaftliche Vorraussetzung für solch Gehirnakrobatik fehlt, der kann sich trotzdem getrost in "Holzwege" hineinfallen lassen wie in weiches Moos. Das Knacken der Zweige ("Unterholzland"), das Knistern der Blätter, das Zirpen der Insekten ("Weidenfels") und das Prasseln des Regens ("Hochwaldregen"): Mäandernd mischt Lomov die - mittels Technologie der Natur nachgebildeten - "bionischen" Geräusche zu einem waldgrünen Kaleidoskop moderner Programmusik.

Doch unter all der saftigen Grünheit des künstlich erschaffenen Waldes lauert – wie im echten organischen Wald – unmittelbare Gefahr ("Dolmen"). Die Closeup-Kamera, unser geistiges Auge, kriecht in Zeitlupe durch das Unterholz hinein in die Erde und scheucht dabei Käfer, Larven und ekliges Gewürm auf, das besser unentdeckt geblieben wäre. Der Duft frischer Fäulinis steigt uns in die Nase, ein Zeugnis ewigen Kreislaufs. Die Temperatur fällt und dunkle Wolken verhüllen das Antlitz der Sonne.

Zurück an der Oberfläche: Das eigentlich Neue an Lomovs Herangehensweise ist also die digitale Neuerschaffung einer authentisch-akustischen Welt. Statt wie Musique-Concrete-Traditionalisten (Hazard, Disinformation, Seti, etc) mit Dat-Recordern durch den Wald zu stapfen und echte "Field Recordings" aufzunehmen, sitzt Axel Bergk gemütlich in seinem Homestudio und läßt Software die Geräusche rendern. Spätestens seit "Matrix" wissen alle: Wir leben in einer Zeit, in der Realität beliebig erzeugt werden kann. Es wird daher immer wichtiger sich ganz bewußt zu vergegenwärtigen, was in Wahrheit real ist und was nicht. Lomovs "Musique Bionique" trägt wesentlich zur Erkenntnisfindung bei und der gewissenhafte Hörer wird den echten Wald, wenn er ihn durchwandert, mit anderen Ohren hören, die tausenden kleinen Geräusche bewußter wahrnehmen. Versprochen.

Ernst Meyer

Lomov - Holzwege

ØØØØ 1/2


Autoplate (D 2005)

 

Links:

Kommentare_

Musik
The Notwist - The Devil, You + Me

Weilheim revisited

Das Wiedersehen mit Bayerns Besten gerät auf deren sechstem Album zu einer sanften und melancholischen Reise ins Innere.  

Musik
The Orb - The Dream

Japanische Träumereien

Die Ambient-Dub-Veteranen geben ein starkes Lebenszeichen von sich. Ihr vor einem Jahr exklusiv für den japanischen Markt erschienenes Album ist nun weltweit erhältlich.  

Musik
Portishead - Third

Scratch is dead

Das mehr als zehn Jahre erwartete dritte Album des nach einer englischen Hafenstadt benannten Trios bietet alles mögliche - nur nicht das, was sich der ausgehungerte Fan erwartet hat ...  

Musik
Nine Inch Nails - Ghosts I-IV

Die Stunde der Geister

Trent Reznors neues Werk besteht aus 36 Instrumental-Songs, die über das Internet vertrieben werden. Trotz fehlenden Gesangs hört man deutlich, wer da an den Reglern saß.  

Stories
Bauhaus - Geschichte eines Stils

Vampire leben länger

Die Gründerväter des Gothic-Rock präsentieren nach 25 Jahren Pause ihr fünftes Studioalbum "Go Away White". Ernst Meyer begibt sich zu diesem Anlaß auf Zeitreise.
 

Musik
Autechre - Quaristice

Popsongs für Synapsen

Zwischenstation Zugänglichkeit? Der neunte Longplayer der Herren Booth und Brown ist in 20 Sound-Miniaturen gegliedert, die man guten Gewissens Popsongs nennen könnte. Na ja, zumindest fast ...