Musik_Harnoncourt dirigiert Verdi & Händel

Manchmal wedelt man vorbei

Der steirische Taktstockschwinger ist leider doch kein Garant für Spitzenqualität, wie seine Neueinspielung des Verdi-Requiems belegt. Dafür entschädigt jedoch der "Messiah".    24.11.2005

Nikolaus Harnoncourt ist altösterreichisch-adeliger Abstammung (ein Nachfahre von Erzherzog Johann) und arbeitete sich in seiner fünfzigjährigen Karriere durch die Jahrhunderte der Musikgeschichte. Er fing als Spezialist für Barock und Alte Musik an und ist mittlerweile bei Romantik und sogar (gemäßigter) Moderne angelangt.

Harnoncourt ist ein sogenannter "Unbequemer" und gleichzeitig einer der seriösesten Interpreten in der mittlerweile heruntergekommenen Kulturszene. Bei ihm ist die Musik niemals eine oberflächliche Show, sondern vielmehr ein Herzensanliegen, das sich gar nicht so selten bei seinem Gesichtsausdruck während der Arbeit bemerkbar macht.

Fans haben sicher mit Spannung auf die beiden vorliegenden Neuerscheinungen gewartet, die innerhalb von nur zwei Wochen im großen Saal des Wiener Musikvereins aufgenommen wurden. Bei Verdis "Messa da Requiem" spielen die Wiener Philharmoniker, während dem Maestro bei Händels Oratorium "Messiah" sein Concentus Musicus assistiert. Obwohl zwischen den Aufnahmen nur wenig Zeit verstrichen ist, könnten die Resultate nicht unterschiedlicher sein.

Das Verdi-Requiem ist des Stardirigenten zweite Begegnung mit Verdi. Nach einer relativ erfolglosen Konzertaufführung des Requiems mit dem Chamber Orchestra of Europe und einer etwas besseren Einspielung der "Aida" konzentrierte er sich Anfang Dezember 2004 auf eine Neuaufnahme der Totenmesse des italienischen Opernkomponisten. Harnoncourt, der normalerweise interessante Ergebnisse erzielt, hatte hier offenbar einen ziemlichen "Hänger". Die hauptberuflich begeisterungsfähigen Hymnenschreiber der Kulturseiten lobten natürlich wie immer die "neue" Sichtweise des Dirigenten. Doch musikalische Interpretationen sind bekanntlich Geschmacksache - und diese Produktion läßt geschulte Hörer nicht nur unberührt, sondern verärgert sie sogar.

Ärgerlich ist beispielsweise die uneinheitliche Sängerbesetzung. Die Sopranistin Eva Mei verströmt ein seelenloses Belcanto; Bernarda Fink ist als einzige mit mit ihrem fantastischen Mezzo herausragend; und Ildebrando d´Arcangelo zeigt sich als ebenso routinierter wie uninteressanter Baß. Der vokale Schwachpunkt aber ist eindeutig Michael Schade. Der Deutsch-Kanadier hat zwar eine schöne Stimme und eine ganz gute Technik, doch man könnte vermuten, daß er gar nicht weiß, was er hier singt. Und seine Stimme ist manchmal so schön, daß man beim nächsten Takt schon den vorigen vergessen hat ... Als Höhepunkt der sängerischen Unart falsettiert sich Schade ungerührt durch das großartige "Hostias" ... Schade, wirklich.

Maestro Harnoncourts Interpretation klingt insgesamt so, als hätte er bei dieser Produktion das Orchester nicht wirklich im Griff gehabt. Man weiß, daß Verdis Instrumentation nicht immer perfekt war. Als auditives Folterinstrument liebte er beispielsweise die Piccoloflöte - so klein sie ist, so störend und zerstörend setzte sie der Komponist oft ein. Mit ihrem schrillen Klang zerstört sie die Atmosphäre und den echten Wert der Musik; nicht umsonst drehte Herbert von Karajan bei allen Verdi-Aufführungen die Piccoloflöte aufs Minimum herunter. Bei der Aufnahme hat man unglücklicherweise den Eindruck, daß der Flötist sein Piccolo unkontrolliert spielen konnte. Ganz schlimm ist der Übergang zum "Hostias" im "Offertorium"; diese wunderbare Passage wird hier brachial verstümmelt.

 

Von ganz anderer Qualität ist Harnoncourts Neuaufnahme von Händels "Messiah". Der Dirigent konnte zwei Wochen nach dem Verdi-Termin eine phantastische Sängerriege aufs Podium bringen und mit "seinem" Concentus Musicus Wien für alles erlittene Verdi-Leid entschädigen. Michael Schade kann hier ungehindert brillieren - wie völlig ausgewechselt beweist er, daß er als lyrischer Tenor für Oratorien aus der frühen Klassik bzw. dem Barock fast unersetzlich ist. Die restlichen Sänger sind ihm mindestens ebenbürtig, und der Arnold-Schönberg-Chor singt bei beiden Werken wie immer interessant, perfekt und kalt.

Harnoncourt zelebriert mit dem Barockensemble Händels Meisterwerk geradezu; er kostet alle Melodien aus und schafft zeitweise einen fast spannungsgeladenen Stillstand.

Als Vorboten für den alljährlichen vorweihnachtlichen Wahnsinn sind die beiden Neuerscheinungen auf jeden Fall interessant; der "Messiah" gehört ja bei den Plattenfirmen zur Weihnachtszeit, so wie anderswo Adventkranz und Christbaum. Während man die Aufnahme von Händels Oratorium bedenkenlos guten Freunden und lieben Verwandten schenken kann, sollte man das bei Verdis Totenmesse jedoch unterlassen - da gibt es weitaus bessere.

Herbert Hiess

Giuseppe Verdi - Messa da Requiem

ØØ


RCA/Sony BMG (D 2005)

 

Eva Mei, Bernarda Fink, Michael Schade, Ildebrando d´Arcangelo

 

Arnold-Schönberg-Chor

Wiener Philharmoniker/Nikolaus Harnoncourt

 

Links:

Georg Friedrich Händel - Messiah

ØØØØØ


Deutsche Harmonia Mundi/Sony BMG (D 2005)

 

Christine Schäfer, Anna Larsson, Michael Schade, Gerald Finley

 

Arnold-Schönberg-Chor

Concentus Musicus Wien/Nikolaus Harnoncourt

 

Links:

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