Musik_Klassiker-Jubiläum
Taktstock und Rauschebart
Am 6. Dezember kommt nicht nur der Nikolo - für den Star-Dirigenten Nikolaus Harnoncourt steht heuer an diesem Datum auch der 80. Geburtstag an. EVOLVER-Klassikexperte Herbert Hiess feiert das freudige Ereignis mit dem Review zweier gelungener CDs: George Gershwins "Porgy and Bess" und der Bach-Kantaten.
05.12.2009
Die erste Harnoncourt-Neuerscheinung ist eine musikalische Zeitreise. In einer Doppel-CD stellt die Plattenfirma Sony drei Bach-Kantaten einander gegenüber - und zwar mit Aufnahmen aus den 70er Jahren und de facto von heute. In beiden Produktionen spielt des Maestros Leibensemble, der Concentus Musicus Wien. Das ist aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit. In der "alten" Auflage befolgt Harnoncourt akribisch die barocke Tradition, nach der bei den Sängern keine weiblichen Stimmen vorkommen durften. Ein bekannter Musikgeschichte-Professor sagte einmal ganz lakonisch: "Früher waren nur männliche Stimmen menschliche Stimmen."
Die Aufnahmen aus den Siebzigern mit den Sängerknaben als Chor und Solisten (für die hohen Stimmen) verbreiten eine weit interessantere und "originalere" Stimmung als der größtenteils emotionslos und "künstlich" singende Arnold Schoenberg Chor in der neueren. Das ist natürlich reine Geschmackssache - aber nichts macht Harnoncourts musikalische Entwicklung deutlicher als diese Gegenüberstellung. Ob es sich dabei allerdings um eine echte oder eine bloß zeitgeistige Entwicklung handelt, muß jeder Hörer selbst beurteilen.
Eine andere Art von Zeitreise ist der gleichzeitig erschienene Mitschnitt von George Gershwins "Porgy and Bess" von der Styriarte 2009. Aufmerksame Leser werden merken, daß ich Harnoncourt schon bei diesem Review achtzig werden ließ. Der Maestro möge mir das halbe Jahr verzeihen!
Bei dieser Produktion tritt wieder das Phänomen in Erscheinung, daß Harnoncourt Werke, die man ihm ad hoc nicht zutraut, zu einer Sternstunde formen kann. War das seinerzeit "Ma Vlast" von Smetana, so ist es jetzt Gershwins Meisterwerk. Hier schaffte er den (für heutige Verhältnisse) seltenen Fall, daß Orchester, Chor und ein mehr als phänomenales Solistenensemble zu einer hochwertigen Einheit verschmelzen. Neun schwarze Solisten von Weltrang gemeinsam auf die Bühne zu bringen ist nur möglich, wenn die Tonträgerindustrie so ein Projekt (finanziell) unterstützt.
Wer das Glück hatte, bereits live im Juni 2009 in Graz dabeizusein, wird von der musikalischen Bestform der Musiker nicht überrascht sein. Sogar der Arnold Schoenberg Chor war diesmal auf allerhöchstem Niveau; selten hat man ihn so gefühlvoll und virtuos singen gehört. Harnoncourt führte das Chamber Orchestra of Europe genial durch die knapp drei Stunden reine Musikzeit - was für einen 80jährigen sicher eine extreme Anstrengung ist. Dank der hervorragenden Aufnahmetechnik klingt Gershwins Oper so, als würde man mitten in der List-Halle in Graz sitzen.
Mit dem "Porgy" könnte man sogar nicht an Klassik interessierte Leute bekehren; auf jeden Fall jedoch sind diese beiden Neuerscheinungen mehr als nur Verlegenheitsgeschenke.
Herbert Hiess
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