Musik_Musikfestival Grafenegg 2010
Deutsch-russischer Orchesterolymp
Das Wort "Sternstunde" wird gern überstrapaziert. Wenn dann der seltene Fall eintritt, daß innerhalb von zwei Tagen Konzerte von derart überragender Qualität stattfinden, muß man nach neuen Superlativen suchen. Verantwortlich dafür sind ein russischer und ein estnischer Dirigent mit zwei grandiosen Orchestern und einem ebensolchen Solisten.
02.09.2010
Also: Es war ausgesprochen denkwürdig, dieses Konzert des Mariinsky-Orchesters St. Petersburg unter seinem Chefdirigenten Valery Gergiev. Der 1953 im Kaukasus geborene Maestro ist nicht nur ein exzellenter Musiker, sondern vor allem ein hochgradiger Charismatiker. Sobald er das Podium betritt, hat er die volle Aufmerksamkeit der Musiker und vor allem des Publikums. Gergiev hat aus dem Orchester von St. Petersburg einen Klangkörper von Weltrang geformt; bei diesem Konzert darf es zeigen, daß es den Philharmonikern von Wien und Berlin um nichts nachsteht. Zuerst tut es das mit Sergej Prokofjews 5. Symphonie, die auch die Wiener Philharmoniker im Frühjahr unter Gergiev spielten. In Grafenegg merkt man deutlich, daß die St. Petersburger nicht nur technisch brillant sind, sondern die Musik auch noch mit Herzblut zelebrieren.
Prokofjew war ein Wegbereiter der Moderne, ohne die Tradition zu vernachlässigen. Manche Passagen der Symphonie erinnern sehr an sein Ballet "Romeo und Julia". In Richtung Moderne geht es dann im zweiten Satz (allegro marcato), wo rasante Läufe erst von skurrilen Dissonanzen und dann einem imposanten Trio abgelöst werden. Das Adagio ist mehr als intensiv, und der Finalsatz mit seinen Jazzelementen sowie den wuchtigen Bläser- und Schlagwerksätzen bringt das Publikum zur Raserei.
Rimski-Korsakows "Scheherezade" ist ein spätromantisches russisches Werk, das sehr leicht in den Kitsch abdriften kann. Viele Dirigenten (und Orchester) hüllen die musikalische Erzählung aus "1001 Nacht" in einen unerträglichen Zuckerguß, was bei diesem eher formlosen Stück offenbar der einzige Ausweg für weniger begabte Musiker ist.
Nicht so Gergiev: Bei ihm klingt jeder Takt einfach schön, und jede Stimme hat in der Partitur ihre hörbare Funktion. Die St. Petersburger Meistermusiker schaffen es, den gesamten Grafenegger Wolkenturm zum Vibrieren zu bringen. Beim vierten Satz kann man sogar fühlen, wie Sindbads Schiff an einer Klippe zerschellt. Jeder der Musiker (vor allem Fagott, Baßtuba, Klarinette, Oboe, Flöte) ist hervorragend, der Konzertmeister ein echtes Ereignis. Selten noch hat ein orchestraler Violinsolist das Werk so zum Abschluß gebracht. Man wünscht sich ja nicht oft bei einem Konzert, daß es nie aufhören möge ... doch bei diesem schon. Gergiev und die St. Petersburger bedanken sich für den Applaus des Publikums mit einer noch nie so gehörten Polonaise aus Tschaikowskys "Eugen Onegin" und dem "Trepak" aus dem "Nußknacker".
Am Tag darauf geht die festspielmäßige Leistungsschau mit dem nächsten Weltklasseorchester weiter. Die sächsische Staatskapelle Dresden begleitet Grafeneggs Intendanten Rudolf Buchbinder bei seinem einzigen Soloauftritt dieses Jahres. Dirigiert wird das Orchester der Semperoper vom "Rising Star" Paavo Järvi, der bereits mit seiner Einspielung der Beethoven-Symphonien bei Sony für Furore sorgte. Damals war sein Orchester die Deutsche Kammerphilharmonie.
Mit dem großartigen Orchester aus Dresden gelingt Järvi eines der besten Beethoven-Konzerte der vergangenen Jahre. Die Sachsen spielen mit soviel Präzision und Delikatesse, daß es einfach eine Freude ist, ihnen zuzuhören - phantastisch, wie sie Järvis Anweisungen umsetzen. Die fünfte Symphonie, mancherorts immer noch als "Schicksalssymphonie" bezeichnet, ist bei diesem Dirigenten keine klischeehafte Umsetzung einer Partitur, sondern vielmehr eine der besten und interessantesten Aufführungen dieses Werks überhaupt. Markante Akzente werden von berührenden Lyrismen abgelöst. Järvi schafft den Spagat zwischen Klassik und Romantik, ohne übertrieben kitschig zu werden oder in eine oberflächlich "aufgerauhte" zeitgemäße Interpretation zu verfallen.
Buchbinder als Solist des 5. Klavierkonzerts in Es-Dur rechtfertigt mit dieser Aufführung seinen Status als der einzig wahre Beethoven-Interpret unter den derzeitigen Pianisten. Er zeigt am Steinway-Flügel, was man unter einem glasklaren Anschlag und perlenden Läufen versteht. Seine Pianissimi im Adagio und in den Variationen des Final-Rondos erzeugen Gänsehaut im Publikum, und es ist phänomenal, wie das Orchester und Järvi mit einfachen Blickkontakten in fast unhörbare Tonkaskaden einfallen. Mit seiner Zugabe des Finalsatzes aus der Klaviersonate "Pathetique" in c-moll bestätigt Buchbinder noch einmal seine Weltklasse.
Über die Orchesterqualität der Staatskapelle zu erzählen, hieße Eulen nach Athen tragen. Doch mit welcher Sensibilität die hübsche Dame an der Piccoloflöte im Finale der 5. Symphonie spielt, ohne den Gesamtklang zu stören - das wäre ein Lehrstück für den Wiener Kollegen, der sich unlängst unter Christian Thielemann durch das Stück pfiff, als stünde er allein am Podium.
Paavo Järvi bedankt sich für den tosenden Applaus mit Jean Sibelius "Valse Triste". Und all jene, die bei diesen musikalischen Großereignissen nicht dabeisein konnten oder wollten, müssen tatsächlich traurig sein ...
Herbert Hiess
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