Grace Jones - Hurricane
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Wall of Sound/Rough Trade/edel (USA 2008)
And now, ladies and gentlemen: Miss Grace Jones! Nach fast zwanzig Jahren Studioabstinenz kehrt die mittlerweile sechzigjährige Diva mit einem beachtlichen neuen Album zurück ins Rampenlicht. 28.11.2008
"Pleased to meet you/Pleased to have you on my plate/Your meat is sweet to me."
So lauten die ersten Zeilen aus "Corporate Cannibal", der Single-Auskopplung von Grace Jones´ neuem Album "Hurricane". Darin gibt sich Jones als menschenfressende Maschine inmitten einer endzeitlichen Welt und knüpft damit direkt an ihre entmenschlichenden Körperinszenierungen der 80er Jahre an. Damals kannte man sie nicht nur als Sängerin, sondern auch als Schauspielerin, Model und lebendes Gesamtkunstwerk. Schon während ihrer Disco-Phase Ende der 70er Jahre, als sie noch nicht zum schwarzen Cyborg mutiert war, verstörte sie ihr Publikum als wildes Raubtier, dem man lieber nicht zu nahe kommen sollte. Mit ihrer ambivalenten und aggressiven Sexualität löste sie in der heterosexuellen Männerwelt Angst und Schrecken aus und wurde zum Idol der Schwulenszene. Auch auf "Hurricane" setzt Grace Jones gelegentllich wieder als personifizierte Naturgewalt auf eine derartig einschüchterne Inszenierung, hat aber auch noch viele andere Facetten zu bieten.
Nach ihren drei von Tom Moulton produzierten Disco-Alben war Grace Jones auch weiterhin zuverlässige Lieferantin für großartige Dance-Tracks. Umso mehr überrascht es, daß sich "Hurricane" nach dem von einem Ragga-Rhythmus angetriebenen Opener "This Is" als weitgehend düsteres und ruhiges Album erweist. Mit Downtempo-Nummern wie "Corporate Cannibal", "Hurricane" und dem großartig opulenten "Devil In My Life" holt sie sogar das spätestens seit der Jahrtausendwende totgesagte Genre TripHop wieder aus der Versenkung. Das Ergebnis klingt alles andere als abgedroschen: Die schleppenden Beats, das bedrohliche Brummen und die pathetischen Streicherpassagen bilden das perfekte Gerüst für Jones´ dunkle Stimme.
Neben solchen Öffnungen gegenüber neuen musikalischen Genres und Künstlern - bei "Hurricane" handelt es sich um eine Kollaboration mit Tricky - besinnt sich Grace Jones aber auch auf ihre Glanzzeit in den frühen Achzigern. Gemeinsam mit dem jamaikanischen Musiker- und Produzentenduo Sly und Robbie entwickelte sie damals auf Alben wie "Warm Leatherette" und dem hervorragenden "Nightclubbing" eine eigenwillige Mischung aus Reggae und New Wave, also einer musikalischen Modeerscheinung und ihren jamaikanischen Wurzeln. Für "Hurricane" konnte sie Sly und Robbie wieder verpflichten; andere Songs wie "Well Well Well", "Sunset Sunrise" und "Love of My Life" haben mit ihrem beschleunigten, poppigen Reggae-Rhythmus jenen smoothen Groove, der schon frühere Hits wie "Private Life" auszeichnete.
Anfang der 80er Jahre bestand ein Grace-Jones-Album überwiegend aus Cover-Versionen. Dabei beschränkte sich die Künstlerin nicht darauf, die Lieder einfach nachzusingen, sondern eignete sich die Songs von Roxy Music ("Love Is the Drug"), Iggy Pop ("Nightclubbing") oder den Pretenders ("Private Life") so weit an, daß sie mit den Originalen nur noch wenig gemeinsam hatten.
Durch den hohen Bekanntheitsgrad dieser Cover-Versionen blieb im verborgenen, daß Grace Jones auch viele ihrer Texte auf den nachfolgenden Alben selbst verfaßte. Hits wie "Pull Up to the Bumper", "My Jamaican Guy" oder "Feel Up" waren aus ihrer eigenen Feder geflossen und standen den Titeln anderer Musiker in nichts nach. Auf "Hurricane" befindet sich übrigens keine einzige Cover-Version, sondern ausschließlich eigene Texte. Neben den bereits erwähnten Endzeitszenarien und Referenzen an ihre musikalische Vergangenheit ("lost in the cell, in this hell, slave to the rhythm of the corporate prison ..."), tragen einige Songs auch autobiographische Züge. So handelt "Willam´s Blood" etwa vom Verhältnis zwischen Jones´ religiöser Familie und der abtrünnigen, hedonistischen Tochter. Auf der Ballade "Crying My Mother´s Tears" hört man die als unterkühlt verschriene Grace Jones so leidend und emotional wie nie zuvor. In ungewohnt hoher Stimmlage offenbart sie eine erstaunliche Zerbrechlichkeit.
Diese emotionale Facette von Jones Persönlichkeit zeichnet sich auch bei den Arrangements der einzelnen Stücke deutlich ab. Auf beinahe allen Songs sind Streicher und Background-Sängerinnen zu hören, die dem Album mitunter einen opernhaften Charme verleihen. Nur manchmal drohen die Songs dabei im Kitsch zu ertrinken; in den besten Augenblicken der Platte sorgen solch theatralische Sound-Teppiche aber für wahre Gänsehautmomente.
Mit "Hurricane" ist Grace Jones ein vielseitiges und in sich stimmiges Album gelungen, auf dem man lediglich einige Knaller für den Dancefloor vermißt. Beibt nur zu hoffen, daß wir nicht wieder 20 Jahre auf ein neues Werk warten müssen.
Grace Jones - Hurricane
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Wall of Sound/Rough Trade/edel (USA 2008)
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