Musik_Wiener Festwochen und Grafenegg 2016
Minnegesänge
Die Wiener Festwochen 2016 glänzten mit einer außergewöhnlichen Aufführung der tragischen KZ-Oper "Die Passagierin" und einem "Fidelio" von Sternstunden-Qualität. Grafenegg begann wie üblich mit einer Sommernachtsgala, die aus diversen Gründen eher flau ausfiel. Dafür brillierten die Tonkünstler im Wolkenturm mit einer Uraufführung mittelalterlicher Minnegesänge im modernen Gewand.
29.06.2016
Markus Hinterhäuser war zwar auf dem Papier Intendant der Wiener Festwochen; dennoch hinterließ das Wiener Festival unter seiner Ägide musikalisch leider noch weniger Eindruck als unter seinen Vorgängern. Angesichts der spärlichen Anzahl an Produktionen gab es immerhin einige hochklassige und bemerkenswerte Veranstaltungen.
Das geheime Motto der heurigen Festwochen scheint "Gefangenschaft" gewesen zu sein: Sowohl die Oper "Die Passagierin" von Mieczyslaw Weinberg als auch Beethovens "Fidelio" spielen im Gefängnismilieu. Während die 2010 uraufgeführte Oper des polnischen Komponisten das Grauen der KZ-Häftlinge in Auschwitz erzählt, läßt Beethovens Werk die Leiden des Gefangenen Florestan und seiner Mithäftlinge im Gefängnis von Sevilla hören und sehen.
Der jüdische Komponist Weinberg vertonte die deprimierende Erzählung der ehemaligen KZ-Gefangenen Zofia Posmysz, die recht realitätsnah die Erinnerungen an ihre Lagerzeit in einen Roman verpackte. Nach der Befreiung vom NS-Regime begegnen einander die frühere KZ-Aufseherin Lisa und die ehemalige Gefangene Marta während einer Schiffsreise wieder. In beiden Frauen werden Erinnerungen wach, die Weinberg in bedrückende Tongemälde kleidete.
Szenisch wurde die Oper 2010 in Bregenz uraufgeführt; für die Wiener Festwochen 2016 holte man sich eine Produktion aus der Frankfurter Oper unter der musikalischen Leitung von Christoph Gedschold und der Regie von Anselm Weber. Dieser wußte die Drehbühne des Theaters an der Wien hervorragend zu nutzen; die acht Bilder und der Epilog zogen wie eine Horrorstory vorüber.
Beethovens Oper "Fidelio" hat eine sehr bewegte Entstehungsgeschichte. Es dauerte recht lange, bis sie nach drei Fassungen (inkl. "Leonore") 1805 im Theater an der Wien zur Uraufführung gelangte, wo man sie 211 Jahre später bei den Wiener Festwochen 2016 wieder erleben durfte.
Bei dieser Produktion brillierten Les Musiciens du Louvre unter ihrem Chefdirigenten Marc Minkowski. Nachdem der ursprünglich vorgesehene Regisseur Dmitri Tcherniakov absagen mußte, gelang es der Intendanz, den bemerkenswerten Achim Freyer zu gewinnen. Der Mann wurde von einigen Angehörigen der Feuilleton-Mafia regelrecht "zerrupft"; in Wahrheit war seine Auslegung des Beethoven-Werks jedoch ein genialer Wurf. Natürlich hatte Freyer wieder seine Masken und Puppen im Spiel und machte damit aus der Oper eine regelrechte Fantasy-Story.
Irgendwie erweckte die Bühne den Eindruck eines überdimensionalen Puppen-Setzkastens, in dem die Hauptrollen mehr oder minder statisch auf ihren Positionen blieben. Mittels Drehtüren konnten sie - je nach Szene - von der Szene verschwinden oder rasch wieder erscheinen. Freyer erzeugte tief beeindruckende Effekte, vor allem ganz am Schluß des ersten Aktes, als die Darsteller (Puppen) bei den letzten Pianotakten bewegungslos verharrten. Schade, daß die fast kindischen Flugzeugprojektionen im Finale des zweiten Aktes die Ernsthaftigkeit torpedierten.
Grandios war jedenfalls die musikalische Seite dieses "Fidelio" - allen voran dank Minkowski, der mit den Musikern Stimmen im Orchester hören ließ, die man sonst selten vernimmt. Es war richtiggehend schade, daß er - wie einst Nikolaus Harnoncourt - ebenso auf die 3. Leonoren-Ouvertüre verzichtete; anscheinend ist das heute en vogue. Exzellent waren auch Christiane Libor als Leonore, Michael König als Florestan, Jewgeni Nikitin als Don Pizarro und Franz Hawlata als schrulliger Rocco.
Ein paar Wochen später eröffnete Grafenegg seine Sommerkonzerte 2016 mit der traditionellen Sommernachtsgala. Die ist weniger künstlerisches Ereignis als gesellschaftlicher Anlaß, bei dem einige Prominente (und die, die sich dafür halten) ein Gesichtsbad nehmen; künstlerisch konnte man in Grafenegg schon weit bessere Aufführungen erleben. Unter seinem Chef Yutaka Sado führte das Hausorchester durch ein wunschkonzertartiges Programm, das vor allem durch den unvergleichlichen walisischen Bariton Bryn Terfel Weltklassequalität entwickelte. Diesmal schmückte Intendant Rudolf Buchbinder mit Webers Konzertstück in f-moll für Klavier und Orchester virtuos die Sommernachtsgala. Während Terfel den Wolkenturm mit seiner unglaublichen Stimme zur großen Bühne machte, zeigte die junge Russin Olga Peretyatko zwar ihren Stimmumfang und ihre blitzsauberen Koloraturen - trotzdem hatte man nachher das Gefühl, eine brillant programmierte Olympia wie in Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" gehört zu haben statt einer tiefsinnigen musikalischen Interpretin.
Herr Sado ist ein sicherer und musikalischer Dirigent; bei der Sommernachtsgala hatte man nicht den Eindruck, daß er das Orchester zu Höchstleistungen antreiben konnte oder wollte. Und gerade die Niederösterreichischen Tonkünstler sind äußerst von Dirigenten abhängig. Wie Sados Tätigkeit als Chefdirigent weitergeht, wird die Zeit zeigen.
Daß das Grafenegger Hausorchester unter anderen Dirigenten wirklich brillieren kann, bewies die Uraufführung der "Carmina Austriaca". Gerald Wirth, künstlerischer Leiter der Wiener Sängerknaben, vertonte gemeinsam mit Michael Korth mittelalterliche Gesänge und Minnelieder zu einer Kantate für großes Orchester, Solisten, Chor und Kinderchor. Es versteht sich wohl von selbst, daß da die Wiener Sängerknaben den Kinderchor gaben. Wirth zauberte aus den mittelalterlichen Melodien auf sehr interessante Art Klänge der Neuzeit - oft glaubte man, plötzlich Strawinsky, Bernstein oder Poulenc zu hören. Orchester und Chöre waren unter Michael Schönwandt hervorragend, genauso wie die Solisten. Schön, Kurt Streit wieder einmal als Tenor zu hören ... und noch schöner, daß er wieder in Hochform ist.
Ob die "Carmina Austriaca" einmal den gleichen Stellenwert wie Carl Orffs "Carmina Burana" haben werden, läßt sich heute noch nicht sagen. Auf jeden Fall ist das 90minütige Werk eine interessante Ergänzung zum Vorbild.
Herbert Hiess
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