Patrick Cowley / Jorge Socarras - Catholic
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Macro (2009)
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Ein posthum veröffentlichtes Album von Disco-Produzent Patrick Cowley mit Aufnahmen aus den 70ern offenbart eine neue Facette seines Schaffens. Der gebürtige New Yoker liegt gut 30 Jahre später immer noch am Puls der Zeit. 20.01.2010
Patrick Cowley hat seinen Teil zur Musikgeschichtsschreibung längst beigetragen. Mit seiner Vorliebe für bombastische Synthie-Epen prägte er die Musik der späten Disco-Jahre und die Entwicklung von Hi-NRG, der elektronischeren und schnelleren Variante von Disco, entscheidend mit. Neben Giorgio Moroder zeichnete Cowley nicht zuletzt für die Entstehung von Techno und House verantwortlich, sondern zählte zu den einflußreichsten Produzenten. Seinen Höhepunkt erlebte er Anfang der 80er Jahre mit "Menergy", "Mind Warp" und "Megatron Man", vor allem aber durch seine Kooperation mit Disco-Diva Sylvester ("You Make Me Feel"). 1982, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, verstarb er als eines der ersten prominenten Aids-Opfer.
Eine völlig neue Facette im Schaffen Cowleys zeigt ein bisher unveröffentlichtes Album, das er zwischen den Jahren 1976 und 1979 mit Jorge Socarras, Sänger der Band Indoor Life, unter dem Projektnamen Catholic aufgenommen hat. Auf dem Macro Label von Techno/House-Musiker Stefan Goldmann, bisher vor allem für eigene Releases genutzt, ist dieses historische Dokument jetzt erhältlich. Eine gewisse Grundskepsis angesichts zahlreicher posthumer Veröffentlichungen, die eher ein finanzielles als ein musikalisches Interesse verfolgen, wird beim Hören schnell aus dem Weg geräumt. "Catholic" erweist sich als gebührende Wiederentdeckung von größter stilistischer Vielfalt, die es noch dazu schafft, konstant ihr hohes Niveau zu halten.
"You once were into disco, but now you're into rock. You lived in San Francisco, but now you're in New York"
Jene Textzeile aus dem Track "Robot Children" ist programmatisch für das gesamte Album. In der Tat hat "Catholic" mit Disco, also Cowleys eigentlichem Fachgebiet, recht wenig zu tun. Vielmehr springt die Musik wild zwischen Genres wie New Wave, Post-Punk, frühem Industrial, Krautrock und natürlich Pop herum. Denn obwohl Cowley sich auf "Catholic" streckenweise ungewohnt experimentell gibt und der Sound immer etwas roh und dreckig klingt - was allerdings auch mit der Qualität der alten Masterbänder zu tun haben dürfte -, dringt doch meist die Liebe zu infantilen, eingänglichen Melodien durch.
Die Musik auf "Catholic" ist in erster Linie elektronische Musik, und es lassen sich durchaus Parallelen zu Zeitgenossen wie Suidice, Silicone Soul oder Throbbing Gristle ziehen. Epigonenhaft wirkt die Musik dabei nie, sondern schafft es stets, ihre Eigenständigkeit zu bewahren. In den meisten Tracks ist die mal schleppende, mal treibende Drum-Machine das führende Grundelement, über das die verantwortlichen Herrschaftten in betont verspielter Weise verschiedene Schichten aus Störgeräuschen, Dissonanzen und typischen Sci-Fi-Soundeffekten legen. Das Ergebnis bewegt sich zwischen tanztauglichem Elektro-Funk wie in "Robot Children" bis zu Ambient-Tracks wie dem sphärischen Schlaflied "I Remember".
Unermüdlich arbeiten sich Cowley und Socarras an verschiedenen Musikstilen ab und drücken sogar der Rockmusik ihren eigenen Stempel auf. Während die Gitarre in "Eddie Go To My Head" dem Grundrhythmus untergeordnet bleibt und sich der Song damit perfekt in die seit Jahren kursierende Dance-Punk-Renaissance um Bands wie Gang of Four oder A Certain Ratio eingliedert, handelt es sich bei "I Never Want To Fall In Love" und "Cars Collide" um eine elektronische Imitation schneller Punk-Nummern, in denen auch auf ein protziges Gitarren-Solo nicht verzichtet wird. Diese beiden Songs bereichern die Vielfalt des Albums zwar um eine weitere musikalische Facette, die wahre Stärke des Duos Cowley/Socarras kommt aber an anderer Stelle besser zur Geltung. Dann nämlich, wenn sich Cowley nicht darauf beschränkt, ein bestehendes Musikgenre zu kopieren, sondern aus verschiedenen Stilen etwas Eigenes kreiert.
Der Gesang von Socarras liefert dazu einen entscheidenden Anteil: Sein hysterisch affektierter, immer leicht wahnsinniger Stil gibt den schnelleren Nummern des Albums eine einprägsame Note. Sein wahres Talent beweist er aber als Balladensänger mit Sinn fürs menschliche Drama und Hang zur großen Geste. "I'll come see you", "You laugh at my face", "Burn brighter Flame" und das Donovan-Cover "Hurdy Gurdy Man" demonstieren dies am eindrucksvollsten und zeigen nicht zuletzt, daß sich Socarras in einer Traditionslinie mit Sängern wie Bryan Ferry und David Bowie bewegt.
Es ist anzunehmen, daß Cowley und Socarras mit ihrem Album, wäre es seinerzeit erschienen, eine Pionierrolle eingenommen hätten. Fast fühlt man sich ein wenig an die Veröffentlichung des "Calling out of Context"-Albums von Arthur Russel vor einigen Jahren erinnert.
Nicht nur, daß sowohl Russel als auch Cowley Disco-Querköpfe waren, die keine Scheu hatten, Genregrenzen zu übertreten. Ihre posthumen Veröffentlichungen sind heute immer noch relevant und wirken kein bißchen angestaubt.
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