Musik_CD-Tips Spezial: Neues vom Klassikmarkt

Verloren und gewonnen

Daß sich die Plattenfirmen mit einer stetig abnehmenden Zahl charismatischer Künstler zufriedengeben müssen, macht sich leider auch an der Menge und Qualität der Neuerscheinungen bemerkbar. Doch es lohnt sich immer wieder, nach Pretiosen Ausschau zu halten - und genau das hat der EVOLVER-Klassikexperte getan.    04.03.2014

Mittlerweile ist es selbstverständlich geworden, daß die Silberscheibe namens Compact Disc bald nicht mehr das führende Tonträgermedium sein wird; sie wird immer mehr durch Downloads und Apps abgelöst.

Downloads vom Mariinsky-Label machen daher auch gleich hier den Anfang - nämlich zwei hervorragende Produktionen des Mariinsky-Orchesters St. Petersburg unter seinem Chefdirigenten Valery Gergiev. In beiden Produktionen spielt Daniel Matsuew, der derzeitige Lieblingspianist des Maestros. Die Künstler und das großartige Orchester brillieren in einer Aufnahme der Klavierkonzerte Nr. 1 und Nr. 2 von Pjotr I. Tschaikowski. Darauf demonstrieren die Musiker höchst überzeugend, daß nicht nur das chartverdächtige Konzert Nr. 1 in b-moll hörenswert ist, sondern fast noch mehr das 2. Konzert in G-Dur. Allein der zweite Satz (Andante) des Konzerts mit seinen Soloinstrumenten macht das Werk zu einem Ereignis. Der Pianist und Gergiev als Dirigent berühren hier mit intensiver Musikalität, wobei die Virtuosität niemals als Selbstzweck in den Vordergrund gespielt wird.

Hitverdächtig ist auch die Produktion mit Sergei Prokofjews 3. Klavierkonzert und der 5. Symphonie des russischen Komponisten, die der Maestro schon 2010 in Grafenegg nervenaufreibend gut präsentierte. Der neue Download ist mindestens genauso intensiv wie das Live-Erlebnis. Prokofjew- und Gergiev-Fans werden kaum daran vorbeikommen.

Als Vergleich dazu eignet sich die neue Sony-Aufnahme, auf der ebenfalls Prokofjews 3. Klavierkonzert, aber auch Béla Bartóks 2. Klavierkonzert mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang und den Berliner Philharmonikern unter ihrem Chef Sir Simon Rattle zu hören sind. Die Musiker zeigen beim Prokofjew-Konzert vielleicht nicht eine derart archaische Wildheit wie Gergiev und Matsuew. Trotzdem ist diese Neuerscheinung eine echte Freude. So ehrlich, virtuous und ungekünstelt wird selten musiziert.

Apps gewinnen für die klassische Musik immer mehr an Bedeutung. Nach der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven gibt es nun auch vom weltberühmten Amsterdamer Concertgebouw-Orchester eine App, mit der man in HD-Qualität Konzertvideos am iPad hören und sehen kann. Mittels Apple-TV und Air-Play kann man die Konzerte sogar in HiFi und Großformat genießen.

Sony liefert eine weitere hochinteressante Neuerscheinung, nämlich Gustav Mahlers Liederzyklen "Kindertotenlieder", "Lieder eines fahrenden Gesellen" und die "Rückert-Lieder". Der deutsche Bariton Christian Gerhaher und Kent Nagano zelebrieren gemeinsam mit dem französisch-kanadischen Orchester von Montreal die überaus gefühlvollen Lieder Mahlers. Vielleicht könnte man sich einen sonoreren und dunkleren Bariton als Gerhaher vorstellen, doch gemeinsam mit Nagano und dem großartigen Orchester ist eine superbe Neuproduktion gelungen.

Unter dem Titel "The Romantics" ist eine 10-CD-Box erschienen, die den den am 16. März 2014 stattfindenden 80. Geburtstag des britischen Maestros Roger Norrington begeht. Der britische Sir kommt eigentlich aus der Originalklang-Barock-Ecke - sein wahres Faible ist aber noch immer die romantische Musik. Gemeinsam mit seinem Radio-Sinfonieorchester bekommt man mit der Box eine musikalische Visitenkarte des Dirigenten, die von Schubert bis Elgar reicht. Es ist äußerst faszinierend, wie Norrington und die schwäbischen Musiker die Musik mehr als beeindruckend klingen lassen: das schönste Geburtstagspräsent, das er sich und uns machen konnte ...

Der italienische Maestro Claudio Abbado hat zehn Jahre lang tapfer sein schweres Krebsleiden ertragen, dem er schließlich Anfang 2014 erlegen ist. An den großartigen Musiker knüpfen sich viele persönliche Erinnerungen des EVOLVER-Klassikexperten, die in der mehr oder weniger zufälligen Mitwirkung im Chor der 2. Symphonie von Gustav Mahler am 23. August 1985 im Wiener Musikverein gipfeln. Ein Video der Konzertaufzeichnung finden Neugierige bei YouTube.

Abbado produzierte eine Vielzahl von Tonträgern; repräsentativ seien zu seinem Gedenken zwei davon vorgestellt. Die letzte Neuaufnahme enthält zwei Mozart-Klavierkonzerte, die fast schicksalhaft von Abbados Exfrau Martha Argerich, der großartigen argentinischen Pianistin, gespielt wurden. Die CD-Box "The Decca Years" wiederum bringt ganz frühe Aufnahmen des Stardirigenten quer durch sein Repertoire. Von Beethoven-Symphonien über Brahms und Verdi bis hin zu Prokofjew kann sich der Hörer überzeugen, wie schwer der Verlust dieses Künstlers wiegt - und außerdem, wie die Aufnahmetechnik der Decca in den 60er und 70er Jahren die heutige nach wie vor fast übertrumpft.

Schade um den großartigen Menschen und Musiker, den man skandalös (wie einst Lorin Maazel) als Direktor der Wiener Staatsoper weggemobbt hat. Die Wiener Philharmoniker waren leider auch nicht imstande (oder willens?), ihn wenigstens für Konzerte zurückzuholen. Wenn man sich die qualitative Versumpfung der Wiener Oper seit Begin der Ära Holender vor Augen führt, weiß man erst, was man an Claudio Abbado gehabt hat ...

Herbert Hiess