Musik_Musikalischer Kamptalreigen
Gars vs. Grafenegg
Lesen Sie, warum der EVOLVER-Klassikexperte die Premiere des Opernhits "Carmen" am liebsten gar nicht rezensieren will. Mit welcher Ignoranz und Konzeptlosigkeit hier ein Meisterwerk verstümmelt wurde, ist beispiellos. Dafür waren weiter unten am Kamp zwei von drei Konzerten mit den Tonkünstlern einfach hervorragend.
27.07.2011
Beginnen wir in der Burgruine von Gars. Hier wurde am 15. Juli 2011 die Premiere eines der größten Opern-Hits - nämlich "Carmen" - gegeben. Bei wunderschönem Wetter konnte man einer trockenen Aufführung entgegensehen.
Nach geduldigem Anhören einiger Ansprachen konnte man die Ouvertüre vom ungünstig seitlich positionierten Orchester hören und ein inszeniertes "Schicksalsmotiv" erleben. Regisseur und Intendant Karel Drgac nimmt hier tatsächlich auf die Novelle von Prosper Merimée Bezug und zeigt als Vorgeschichte, wie Don José beim Spiel seinen Gegner ersticht.
Damit sind wir bei der Ambivalenz, die uns der Regisseur liefert. So werden geniale Einfälle ganz überraschend durch Kindereien abgelöst - und daß sich Drgac viele inhaltliche Freiheiten herausnimmt, steht auf einem anderen Blatt. Offenbar sitzen bei ihm in der Produktion die Messer locker, denn entgegen dem Libretto wird Don José nach der Ermordung Carmens nicht festgenommen, sondern von den beiden Schmugglern Dancairo und Remendado abgestochen.
Studiert man die Besetzungsliste der Premiere, so sucht man vergebens den Namen Morales. Das war kein Versehen der Programmersteller, sondern vielmehr ein echter Skandal. Hier wurde einfach fast ein Viertel des ersten Aktes gekappt, und die Oper begann mit dem Chor der Zigarettenarbeiterinnen. So fehlten also der Eingangschor, die Szene Morales und Micaëla, und natürlich der Kinderchor. Das entspricht ungefähr einen Film, der erst ab der zweiten oder dritten Szene gezeigt wird.
Kürzungen und Striche machten natürlich auch Karajan & Co., doch so brutal hat sie bis jetzt noch niemand durchgeführt. Das Ensemble im dritten Akt "Quant au douanier", das sowieso nur etwas mehr als drei Minuten dauert, wurde so verstümmelt, daß man glauben könnte, eine CD macht einen "Hüpfer". Dafür wurde nach dem Vorspiel zum vierten Akt ganz plötzlich die "Farandole" aus Bizets "l'Arlésienne"-Suite von einem Paar getanzt. Was hat diese urfranzösische Musik hier verloren?
Viele Tänze sollten spanisch wirken, hatten aber letztlich das Flair einer Zumba-Choreographie. Wer die Oper einmal mit echten Flamenco-Tänzern erlebt hat, kann diese Behauptung mühelos nachvollziehen.
Die Sängerbesetzung war recht zwiespältig. Viktoria Vizin sang ihre Titelpartie mit wohlklingendem Timbre; die (selbst-)mörderische Leidenschaft der Carmen konnte sie jedoch nie vermitteln. Marius Vlads José war sehr brav und interessant, aber genausowenig mitreißend. Die Micaëla von Elisabeta Marin war einer der Höhepunkte der Aufführung, wogegen Thomas Weinhappel als Escamillo eher auf der Suche nach richtigen Noten war, statt eine der führenden Rollen der Oper zu gestalten. Das Torero-Lied ist eine der größten Herausforderungen für einen Baß-Bariton, bei der extreme Höhen und Tiefen ineinandergehen; das sollte auch jedem, der im Stierkämpferkostüm die Bühne betritt, bewußt sein.
Andreas Stoehr interpretierte vor allem die lyrischen Stellen mit den Musikern des slowakischen Nationaltheaters Bratislava recht beeindruckend. Dramatik im Orchester entwickelte sich leider selten, was auch an der unglücklichen Position der Musiker liegen kann.
Abschließend muß man die Frage stellen, wie weit ein Dirigent gehen kann und muß, daß er bei solchen Kürzungen und "Verstümmelungen" mitspielt; man kann sich schwer vorstellen, daß ein gestandener Musiker dazu so einfach seinen Sanctus gibt.
Einige Kilometer den Kamp stromabwärts absolvierten die Niederösterreichischen Tonkünstler, das Hausorchester des Musikfestivals Grafenegg, eine Reihe von drei Konzerten.
Das erste dirigierte der Chefdirigent Andrés Orozco-Estrada - wobei seine Darbietung die schwächste war. In der sowohl phantastischen als auch heiklen Akustik des Wolkenturms musizierte man Debussys "Prélude", zwei Werke für Violine und Orchester von Saint-Saëns sowie Werke von Ravel.
Gerettet wurde das Konzert von der hervorragenden Geigerin Lisa Batiashvili, die mit Brillanz die hochvirtuosen Werke des französischen Komponisten Saint-Saëns musizierte und nach ihrem Soloauftritt mit einer berückenden Wiedergabe der berühmten Meditation von Massenets "Thaïs" das Publikum bezauberte. So ein gehauchter Schlußton dieser Meditation ist selten zu hören.
Bei der abschließenden "Rapsodie espagnole" und dem "Boléro" wurde man rasch auf den Boden der Realität geschmettert. Viele Ungenauigkeiten und Belanglosigkeiten sowie orchestrale Schnitzer führten zum eigentlich herbeigesehnten Schluß. Estrada macht zwar fürs Auge interessante Bewegungen bzw. Körpereinsätze; leider konnte er das nicht in klingende Töne umsetzen (lassen).
Ein ganz anderes Kaliber waren die beiden Konzerte unter Jesus López-Cobos und Andrew Litton. Der Spanier und der Amerikaner trieben die Tonkünstler zu echten Höchstleistungen an. Während bei López-Cobos Sharon Kam mit Webers f-moll Klarinettenkonzert brillierte, zeigte bei Litton Anja Kampe, wie man hervorragend Orchesterlieder von Richard Strauss singen kann.
Der spanische Meisterdirigent schloß sein Konzert mit Mendelssohns dritter Symphonie "Schottischer"; Andrew Litton mit der Suite aus der Oper "Der Rosenkavalier". Übrigens interpretierten die großartigen Tonkünstler mit Litton eine der besten Wiedergaben von "Also sprach Zarathustra", die der EVOLVER-Klassikexperte je hören durfte.
Herbert Hiess
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