Musik_Neues vom Tonträgermarkt
Sommerliche Musikernte
In jüngerer Vergangenheit ist immer wieder vom Einbruch des Klassiksektors die Rede - und angesichts der äußerst überschaubaren Anzahl an Neuerscheinungen dürfte das nicht übertrieben sein. Umso schöner, wenn ein kleines Label mit Beethoven-Symphonien überrascht, Sony den langersehnten Mitschnitt eines Celibidache-Konzerts aus Wien veröffentlicht und Stardirigent Valery Gergiev traumhafte Aufnahmen auf seinem eigenen Label präsentiert.
23.08.2012
Die Neuerscheinungspolitik der großen Labels (Universal, Sony, EMI) wurde in den vergangenen paar Jahren immer restriktiver; schuld daran sind wahrscheinlich die gewaltigen Produktionskosten und die schwindende Käuferzahl. Dennoch gelangen immer wieder interessante Neuerscheinungen und Wiederveröffentlichungen auf den Markt.
Universal kann etwa mit einer Neuproduktion von Mozarts "Don Giovanni" und den Beethoven-Symphonien unter dem Titel "Beethoven für alle" aufwarten. Mozarts Oper wurde anläßlich einer konzertanten Aufführung im Juli 2011 aufgenommen. Yannick Nézet-Séguin dirigiert hier das Mahler Chamber Orchestra, und es singt für eine heutige Verhältnisse echte "Bilderbuchbesetzung" (d´Arcangelo, Damrau, DiDonato, Villazón, Erdmann). Trotzdem klingt die Aufnahme etwas steril und sogar ein bißchen fad. Der italienische Baß mag zwar gut aussehen und eine schöne Stimme haben - doch als perfider Verführer überzeugt er nicht wirklich. Auch die Damen und der mexikanische Tenor Villazón sind hier wohl nicht die Idealbesetzung, ebenso wie der Kanadier Nézet-Séguin. Der spielte übrigens unlängst mit dem Chamber Orchestra of Europe Mozarts "Così fan Tutte" in Baden-Baden ein; hoffentlich gelingt diese Produktion besser ...
Der umtriebige Dirigent Daniel Barenboim brachte vor kurzem sämtliche Beethoven-Symphonien, aufgenommen mit seinem West-Eastern Divan Orchestra, auf den Markt. Dort trifft er allerdings auf teils übermächtige Konkurrenz - Riccardo Chailly setzte mit seiner bei Universal erschienenen Gesamtaufnahme Maßstäbe. Barenboims Interpretation klingt für heutige Verhältnisse zeitweise (zu) breit, besondere Akzente sind da leider nicht zu hören. Auch die Gesamtausgabe der Beethoven-Symphonien unter Michael Gielen (in einer wunderschönen Ausgabe bei Hänssler Classic) übertrifft Barenboims Version. Der deutsche Maestro und das ausgezeichnete Orchester überraschen mit einem frischen Klang sowie einer starken und mitreißenden Interpretation.
Unter dem Markennamen "LSO Live" bringt das hauseigene Label des London Symphony Orchestra großartige Produktionen des Ensembles - nicht nur unter seinem Chefdirigenten Valery Gergiev, sondern auch mit Größen wie Sir Colin Davis, Bernard Haitink, André Previn etc. - heraus. Gergiev hat sich schon seit längerer Zeit von den Major-Labels absentiert; mit "LSO Live" und dem Mariinsky-Label hat er offenbar die für ihn richtigen Produktionsbedingungen gefunden.
Neu auf "LSO Live" ist die Filmmusik-CD des Komponisten Dimitri Tiomkin ("High Noon", "The Alamo" usw.); hier wird Western-Musik vom Feinsten gespielt. Downloads für iTunes etc. sind bei dem Independent-Label ebenfalls erhältlich. Formidabel ist auch eine recht neue Einspielung der morbiden Blutoper "Elektra" von Richard Strauss unter Orchesterchef Gergiev. In einer Traumbesetzung (Jeanne-Michèle Charbonnet als Elektra, Angela Denoke als Chrysothemis, Felicity Palmer als Clytemnestra, Matthias Goerne als Orest) zeigen Dirigent und Orchester, wie man die üble Handlung am Peloponnes hör- und fühlbar machen kann. Die Musik, die zwischen Schönklang und nervösem Stampfen oder Raunen schwankt, hat man noch selten so gehört. Daher kann diese Einspielung locker mit den ganz großen (z. B. unter Sir Georg Solti) mithalten.
Sony überraschte zur Freude aller Klassik-Fans mit der Veröffentlichung von drei DVDs mit Bruckner-Symphonien, eingespielt von den Münchner Philharmonikern unter ihrem damaligen Chef Sergiu Celibidache. Neben den drei DVDs findet sich hier nämlich ein lang vermißter CD-Mitschnitt von Bruckners Symphonie Nr. 4 in Es-Dur, der 1989 im Wiener Musikverein entstand. Der EVOLVER-Klassikexperte durfte damals bei zwei Proben und einem Konzert dabei sein und hat seither nie wieder eine solch intensive Interpretation dieser "Romantischen" Symphonie gehört. Übrigens ist dies das erste Mal, daß eine Bruckner-Symphonie auf zwei CDs erscheint - was aber aufgrund der Länge von beinahe 85 Minuten technisch notwendig ist. Trotz der extrem langsamen Tempi schafft Celibidache eine Spannung, die den Zuhörer vor allem in der Coda des vierten Satzes fast in den Wahnsinn treibt. 1989 wurde die Produktion auch auf Video mitgeschnitten (sowohl in den Proben als auch in den Konzerten). Warum sie jetzt "nur" auf CD erschienen ist, mag zwar verwundern - aber andererseits ist das akustische Erlebnis schon mehr als ausreichend.
Herbert Hiess
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