Musik_Bibio - Fi

The Spirit of Wales

Ein junger walisischer Komponist zeigt, wieviel post-folkige Schönheit aus einer Gitarre, einer Flöte und einer Distortion-Box erwachsen kann.    30.05.2005

Du liegst träumend in der Wiese. Die ersten warmen Tage ziehen durchs Land. Während die Sonne den Tau trocknet, beginnt drüben im Werkzeugschuppen ein altes Transistorradio zu spielen. Leise Musik, die sich mit den Klängen des Gartens zu einer wundersamen Melange mischt. Schließt du die Augen, ziehen Bilder deiner Kindheit vorbei. Der Spielplatz, die viel zu große Schultüte, Schwimmen mit Freunden im Ziegelteich. Vielleicht der erste Kuß, unschuldig wie diese Frühlingsbrise.

Selten zuvor ist es einem Musiker gelungen, solche Kindheitserinnerungen heraufzubeschwören. Stephen Wilkinson alias Bibio schafft es mit seinem Album "Fi": Er nimmt den Hörer bei der Hand und führt ihn in seine eigene Vergangenheit zurück. Um dies zu bewerkstelligen, braucht er nicht viel: eine Gitarre, einen alten 4-Spur-Taperecorder, eine Blockflöte (endlich wieder!) und eine analoge Filterbank.

Was hier vorliegt, ist ein Debüt-Longplayer wie ein Füllhorn, voll fragiler, andächtiger Harmonien, schlingernder Mantras und prickelnder "post-folkiger" Gitarren. Statt Drones zu liefern, bewegt sich in Bibios Universum vielerlei im hochfrequenten Bereich, wie Insekten, die über dem Moor schwirren. Die Sounds klingen dabei freilich niemals bohrend oder verstörend. Um den beruhigenden Effekt noch zu verstärken, versammeln sich auf "Fi" auch Found-Sounds wie Wasserrauschen oder Wind in den Baumwipfeln.

Seine Kompositionen sind archaisch schlicht, man kann nur staunen über soviel Sorgfalt und Inspiration - in einer Welt, in der Laptops inzwischen ganze Musikstudios ersetzen - und ihn richtig vor sich sehen, wie er im Garten mit seinen Instrumenten sitzt, Patterns einspielt und Gitarren-Cluster loopt, um dann alles durch seine Distortion-Filterbank zu schicken. Wieviel Besinnlichkeit und Emotionen der junge Künstler in seine 17 Songs verpackt, läßt sich mit Worten kaum beschreiben, vielleicht erinnert das eine oder andere Stück an Popol Vuh (z.b.: "Cantaloop Carousel"), andere an Capitol K ("Cherry Blossom Road").

Bibio schafft sogar noch mehr: Die Seele, das kontemplative Gefüge, das den Reiz der Boards of Canada ausmacht, liegt hier für jeden nachvollziehbar offen. Besondere Empfehlung.

Ernst Meyer

Bibio - Fi

ØØØØ 1/2


Mush Records (USA 2005)

 

Photo © Holly Fuller

 

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