Akzente_Irrgelichter im Spiegelgrund
Reißbrettkönig ist Menschenfeind
Eine theatralische Abrechnung mit der selektiven Ausmerzung unwerten Lebens in der Nazi-Ära. Statt aufklärerischem Thrill regiert jedoch der bigott jenseitige Zeigefinger.
09.04.2004
Es ist sehr zu bezweifeln, daß die kulturellen Verbrechen im Namen Max Reinhardts, die Österreichs Schauspielwesen seit Jahrzehnten versauen, das Gegengift zu den zeitgemäßen Fascho-Tendenzen sind. Aber da blöken und krakeelen sie, in lupenreinstem Darstellerdeutsch, fern jeden Lebens, fern jeder Ausdruckskraft. Machen auf ganz schön irre, aber halt doch auch auf menschelnd, allzu menschelnd. Und denken, der Dienst an der vermeintlich guten Sache würde das Stereotypisieren, die Larmoyanz, die Selbstgefälligkeit ungeschehen machen.
Die österreichische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke "Am Steinhof" galt nach ihrer Eröffnung 1907 lange Zeit als die beste und fortschrittlichste Europas, bevor sie sich durch die so genannte T4-Aktion zum "Menschenschlachthof" entwickelte, wo Tausende "Gestörte" jedweden Alters im Namen der Rassenhygiene ungeschehen gemacht wurden. Nestroy-Preisträgerin Tina Leisch, berechtigt bekannt für ihre "Mein Kampf"-Inszenierung im Wiener Obdachlosenheim Meldemannstraße, versucht die berühmte "Annäherung" an die Dämonie eines vergangenen Alltags.
Aber statt das real Geschehene als selbstbewußt kippendes System der Kleinkrämer darzustellen, beschwört Leisch eine geistlose Rochade an Personenklischees, die spätestens seit dem Thesentheater der Fünfziger und Sechziger gegessen sein sollte. Da wird das Irrenhaus natürlich gleich zum Mikrokosmos der rundum zerrissenen Außenwelt. Da muß jede Einzelperson von der Straßenkämpferin über den misogyn rechthaberischen Oberarzt bis zum Quotenjuden gleich vollvirtuell historistisches Zitatstrichwesen sein statt in erster Linie Person für sich - inklusive aller unparteiischen Zwiespältigkeiten. Jede Textpassage ist ein demagogisches Manifest, direkt aus pathosgeprägten Gymnasiastenklos.
Verdammt schade um all die großartigen Ingredienzen, um dieses essentiell neu zu durchlebende und gut recherchierte Stück Historie, um den entsprechend irritierenden Ort der Aufführung, um die Offbeat-Castings von Leo Lukas, Mara Mattuschka oder "echten" Steinhof-Patienten, die die realen Darsteller in Sekunden verblassen lassen. Verdammt schade auch um die Gelegenheit, unserer heilsverliebt hurra-ökonomischen Zeit mit der richtigen Story an den Puls zu gehen. Muß sich die Menschheit nicht immer vor denen fürchten, die sie retten wollen? Das darf auch die Kunst endlich kapieren...
Paul Poet
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