Akzente_The Experimental Witch

Einer für alle, alle für einen

Bestseller-Autor Paul Coelho läßt seine Leser via MySpace und YouTube seinen Roman "Die Hexe von Portobello" verfilmen. Warum? Stefan Becht weiß Genaueres.    07.07.2008

Wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt die gesamte internationale Verlags- und Publikationsszene derzeit vor dem "Dämon" Internet, weint sich die Augen über sinkende Auflagen aus oder sucht hektisch nach "synergetisch sinnvollen Investionsergänzungen". Nun denn, immer weg mit dem "Risikokapital"! Dabei braucht es in unserem digital vernetzen Alltag nur eine gute Idee und etwas erzählerisches Geschick (Anm. der Red.: siehe David Wellington und Scott Sigler). Beides dürfen wir dem brasilianischen Bestseller-Autor Paul Coelho, dessen Bücher auf deutsch beim Diogenes-Verlag erscheinen und der schon seit Jahren als höchst aktiver Blogger im Web unterwegs ist, durchaus unterstellen.

Zusammen mit dem Netzwerk MySpace, in dem Coelho eine eigene Seite unterhält, und der Video-Website YouTube, die zum Konglomerat des Suchmaschinenriesen Google gehört, ruft der wahrscheinlich meistübersetzte Autor der Welt nun seine Leser auf, sein Buch "Die Hexe von Portobello" gemeinschaftlich zu verfilmen. Sehr schön, sogar in deutscher Sprache, erklärt Coelho in seinem Blog, wie es dazu kam: "Im vergangenen Jahr habe ich immer wieder Webseiten von Lesern besucht und darauf ausgezeichnete Arbeiten von Schauspielern und Schauspielerinnen, Musikern und Regisseuren gefunden. Da dachte ich mir: Warum machen wir nicht zusammen einen Film? Obwohl ich alle Rechte am Buch habe, wäre es doch interessant zu versuchen, eine Partnerschaft mit meinen Lesern einzugehen." Die Rechte am Buch, auch das Recht, den Stoff irgendwann später vielleicht mit einem der großen Studios professionell zu verfilmen, verbleiben weiterhin bei Coelho.

Am 16. Juni 2008 startete "The Experimental Witch", wie das Projekt offiziell heißt, begleitet vom Medienrummel in mehr als 20 Ländern der Erde. Inzwischen sind bereits 9 Erzählperspektiven der möglichen 15, aus denen "Die Hexe von Portobello" filmisch geschildert werden soll, an die Leser vergeben.

Auch am Soundtrack für den Film kann man sich beteiligen. Einsendeschluß für das Film- bzw. Musikmaterial ist der 25. Juli 2008, die ausgewählten Filmarbeiten werden mit jeweils 3000 Euro honoriert, am 24. August will man das Ergebnis bekanntgeben. Wenn es ganz optimal läuft, soll aus dem Material ein etwa 50 bis 60 Minuten langer Film unter Anleitung eines professionellen Regisseurs entstehen.

"Sie fragen sich vielleicht: Was bringt das alles?" schreibt Coelho auf der Anmeldeseite. Um gleich darauf zwei Antworten parat zu haben: "die vielfältigen Sichtweisen meiner Leser kennenlernen" und "ein bißchen Flimgeschichte schreiben: indem ein Film entsteht, dessen Regisseure Leser sind!" Das mögen für Coelho selbst die Gründe sein. Zweierlei geschieht jedoch, über das Internet ermöglicht, wie von selbst: Alle Leser, die derart in die Weiterentwicklung eines Stoffes einbezogen werden, werden - wie der ehemalige WIRED-Chefredakteuer Kevin Kelly es nennt - zu "wahren Fans". Weltweit. Und wie wir wissen, lebt ein Autor nicht von seinen Büchern, sondern von seinen Lesern. Die zahlen nämlich.

Gleichzeitig, vielleicht sogar ungewollt, emanzipiert sich ein Bestseller-Autor wie Coelho mit solchen Aktionen natürlich vom internationalen Buch- und Publikationszirkus. Das aus dieser Aktion erwachsende globale Netzwerk und die Ressourcen bleiben erhalten und weiterhin nutzbar - wofür auch immer.

 

PS: Warum auf der Verlags-Website von Diogenes nicht der kleinste Hinweis auf das "Experimental Witch"-Projekt des Autors zu finden ist, bleibt rätselhaft. Symptomatisch für den Umgang der Verlagsbranche mit dem Internet ist es jedoch allemal.

Stefan Becht

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