Akzente_Bach-Kantaten live

Do the Bach!

Eine Durchinszenierung der Werke Johann Sebastian Bachs galt bisher als unmöglich. Dem amerikanischen Regiemeister Peter Sellars gelang das Kunststück trotzdem.    18.07.2005

Peter Sellars und Johann Sebastian Bach - niemand hätte geglaubt, daß der amerikanische Meisterregisseur und der deutsche Komponist je zueinander finden würden. Doch mit der szenischen Darstellung von zwei Bach-Kantaten (im Rahmen der Wiener Festwochen) wurde das Unmögliche möglich.

Bach war nie ein szenisch orientierter Komponist. Einige seiner Werke, wie etwa die "Johannespassion" und die zwei zur Aufführung gelangten Bach-Kantaten, tragen zwar opernhafte Züge, doch eine totale Durchinszenierung ist fast unmöglich, ohne ins Peinliche abzurutschen. Trotzdem brachte Peter Sellars die Kantaten "Mein Herze schwimmt im Blut" (BWV 199) und "Ich habe genug" (BWV 82) als Gemeinschaftsproduktion der Festwochen mit anderen Kulturinstitutionen auf die Bühne, wobei ihm beinahe das Kunstwerk gelang, eine schlüssige Bühnenform zu erreichen.

Sellars hatte mit der amerikanischen Mezzosopranistin Lorraine Hunt Lieberson eine sowohl dramaturgisch als auch stimmlich geniale Darstellerin zur Hand. Lieberson kann man guten Gewissens als Stimm-Weltstar bezeichnen. Sie beherrscht das dreifache Piano genauso perfekt wie das extreme Fortissimo. Ihr Organ klingt immer angenehm und ausdrucksvoll; sie erinnert irgendwie auch an die längst verstorbene Kathleen Ferrier. Ein unvergeßlicher Moment des Abends war, wie die Sängerin - auf dem Rücken liegend - die Arie "Schlummert ein, ihr matten Augen" fast nur hauchte.

Leider war Sellars´ Regie nicht immer ganz schlüssig, und die permanente Umsetzung der Kantatenworte mutierte zuweilen zur Lächerlichkeit. Warum die Sängerin bei den Worten "Tief gebückt und voller Reue ..." beispielsweise immer beinahe den Boden küssen mußte, bleibt ein Rätsel. Jeder, der weiß, daß sich die Bachschen Arien als Kunstform immer wiederholen, kann sich vorstellen, daß solche Manierismen mit der Zeit ziemlich lästig werden.

 

Mehr gab es an der Inszenierung aber auch nicht auszusetzen. Ein weiterer unvergeßlicher Moment offenbarte sich dem Zuseher bei BWV 82, wo die Sängerin die dem Tode nahe Patientin einer Intensivstation darstellte. Hier war auf der Bühne neben Lorraine Hunt Lieberson im totalen Dunkel nur ein Tänzer zu sehen, der eine grell leuchtende Lampe über sie hielt, durch die das ewige Licht symbolisiert wurde. Am Schluß (also im Tode) glich diese Beleuchtung einem Heiligenschein.

Auch die musikalische Umsetzung durch das Orchestra of Emmanuel Music aus Boston unter der Leitung von Craig Smith gab keinen Grund zur Klage. Die Musiker interpretierten einen erstaunlich "normalen" Bach - mit weichem Klang, ohne gefühl- und herzloses Pseudo-Originalklang-"Gekratze". Craig Smith ist aufmerksamen Musikfreunden ohnehin kein Unbekannter. Er arbeitete gemeinsam mit Peter Sellars bereits an den drei "da Ponte"-Opern im ORF-Theater. Besagte großartige Produktion ist übrigens mittlerweile schon im Hinblick auf das Mozartjahr 2006 auf DVD erschienen.

Herbert Hiess

Johann Sebastian Bach - Bach-Kantaten

ØØØØ


Konzept/Regie: Peter Sellars

Mit: Lorraine Hunt Lieberson (Gesang) und Michael Schumacher (Tanz in BWV 82)

 

10. und 12. Juni 2005

Ronacher

 

Photos © Steve Gillett

 

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