Akzente_Lulu
Das todbringende Mädchen
Die Wiener Festwochen knüpften mit der Premiere von "Lulu" im Theater an der Wien nahtlos an den großen Erfolg des "Wozzeck" an. Mit einer grandiosen Aufführung der dreiaktigen Fassung zeigten die Veranstalter auch, wie wichtig es eigentlich wäre, diese beiden Opern Alban Bergs ständig im Repertoire zu haben.
14.06.2010
Alban Berg schrieb die Vertonung von Frank Wedekinds "Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora" in den letzten sieben Jahren seines Lebens. Er konnte trotz der langen Arbeitsdauer nur die ersten beiden Akte und ein Particell des dritten Aktes knapp vor seinem Tod 1935 zu Ende bringen. Der Wiener Komponist Friedrich Cerha stellte anhand dieser Entwürfe den dritten Akt fertig; uraufgeführt wurde die dreiaktige Version 1979 in Paris unter Pierre Boulez.
Die Festwochen 2010 haben für die heurige Premiere mit Peter Stein und Daniele Gatti ein perfekt harmonierendes Team zur Verfügung.
Oft genug wird die Lulu bloß als sexbesessenes, männerverzehrendes Ungeheuer dargestellt (wobei natürlich auch die meist langweiligen Erotikszenen obligatorisch sind); nicht so bei Peter Stein. In seiner Aufführung, die 2009 in der Opéra de Lyon Premiere hatte, zeigt er die Figur als Opfer ihrer Umwelt: Lulu, schon als Kind mehrfach mißbraucht, ist eine Getriebene, die es der Männerwelt mit ihren Mitteln heimzahlt. Auch aktuelle Ereignisse wie Börsenkrach und Wirtschaftskrise finden Erwähnung; großartig, wie Stein die Szene mit dem Jungfrauaktien-Desaster zu einer Parodie umfunktioniert.
Daniele Gatti wiederum macht aus der extrem komplexen Partitur eine akustische Offenbarung. Jede Stimme des Orchesters ist plastisch herausgearbeitet, ohne daß dabei auch nur einen Augenblick lang der Gesamtklang gestört wird. Das Mahler Chamber Orchestra kann man derzeit ruhig als eines der führenden auf der Welt bezeichnen.
Regisseur und musikalischer Leiter dürfen sich aber auch glücklich schätzen, eine Sängerbesetzung ersten Ranges auf der Bühne zu haben; angefangen mit Laura Aikin, die Steins Ansatz geradezu perfekt umsetzt. Sie spielt nicht (wie anderswo) die ewige Kindfrau, sondern einen zutiefst unglücklichen Menschen; stimmlich macht sie aus der fast unsingbaren Partie ein Großereignis. Die zweite Sensation ist der deutsche Tenor Thomas Piffka als Alwa. Stein sieht in dieser Rolle ein Alter ego des Komponisten; wenn man einige der Fotos kennt, könnte man meinen, eher Berg selbst als Dr. Schöns Sohn auf der Bühne zu sehen. Auch diese Partie ist extrem schwer und hoch zu singen, aber das stellt für Piffka offenbar kein Problem dar - seinen Namen wird man sich merken müssen.
Die anderen Rollen sind ebenso hervorragend besetzt; allen voran Natascha Petrinsky als Gräfin Geschwitz, Stephen West als Dr. Schön und der Schigolch von Franz Mazura.
Unter der genialen Regie von Peter Stein und der einfühlsamen musikalischen Leitung von Daniele Gatti ist es im Theater an der Wien wieder einmal gelungen, ein gewaltiges Werk zu einer traumhaften Aufführung zu bringen.
Normalerweise haben kulturpolitische Einwürfe in einer Rezension nichts verloren. Doch die Ankündigung der Wiener Festwochen, in Zukunft auf Opern verzichten zu wollen, muß als gefährliche Drohung betrachtet werden. Musikdramen waren immer ein Grundpfeiler der Festwochen. Wenn sie dann noch so phantastisch aufgeführt werden wie die beiden Berg-Opern (man erinnere sich an den "Wozzeck"), sollte das Anlaß genug sein, diese Tradition fortzusetzen - zumal unser Haus am Ring immer weniger in der Lage ist, solche Produktionen anzubieten.
Herbert Hiess
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