Kolumnen_Zapped

Revue passiert

Jahresrückblicke sind wie eine gute Party: Manches will man vergessen, manches hat man vergessen, und der Rest ist reine Verklärung. Jahresrückblicke im TV sind genauso: Das meiste hat man vergessen, vieles hat man nie gewußt, und der Rest ist Günther Jauch.    02.01.2012

Fukushima, Amoklauf in Norwegen, die Hochzeit von William und Kate – es war ein schlechtes Jahr. Aber es füllt den Bildschirm, und zwar stundenlang. Schon am 4. 12. haben wir uns auf RTL anhören müssen, was bereits zur Genüge durchgekaut, runtergeschluckt, wieder hochgewürgt und dann dem Zuschauer nochmals in den Rachen gestopft wurde: Menschen, Bilder, Emotionen, die wir ohne Fernsehen nie treffen, nie sehen, nie fühlen würden.

Bleiben wir bei den Menschen, denn Günther Jauch ist nicht der einzige, der seine Gäste zur Vergangenheitsbewältigung zwingt. Auch Stefan Raab will seine Siege noch einmal auskosten und beordert seine Ex-Gegner zum "TV total Jahresrückblick". Bei Redaktionsschluß war es zwar noch nicht soweit, aber ich kann’s mir bildlich vorstellen: Raab hüpft wie Rumpelstilzchen auf und ab, zeigt den ehemaligen Kandidaten die lange Nase und orakelt für das Jahr 2012: "Extrem-Stricken, Badeenten-Weitwurf, Songcontest gewinnen. Notiz an mich: Keiner schlägt den Raab!"

Der Rückblick von Daniela Katzenberger wurde dagegen mit äußerster Spannung erwartet: Am 31. Dezember präsentierte sie ihr ganz persönliches Jahr 2011. Ganz spezielle Geschichten, die Katzi zu Tränen gerührt haben! Also nicht Fukushima, sondern Gaby Köster. Nicht Amoklauf, sondern Perlweiß-Werbung - mein Kater am 1. Jänner hatte sicher mehr Niveau.

 

2011. Wir haben es weit gebracht. Jahresrückblicke sind perfekt geeignet, um uns vor Augen zu halten, daß wir wieder nichts gelernt haben, aber immer noch da sind. Das ist dann so deprimierend, daß nur oscarverdächtige Superlative dieses Szenario wiedergutmachen können: Die beste deutsche Sprosse geht an ... Die am meisten verseuchte Ölsardine geht an ... Die Eisverkäuferin mit den meisten Leichen im Keller ist ...

Und wir sitzen vor dem Bildschirm und entsinnen uns: Ja, das war schon traurig/lustig/bedauerlich/egal. Ich kann mich noch dran erinnern, wo ich war, als ich erfahren habe, daß ... So wird der TV-Rückblick zu unserem persönlichen Rückblick, als hätten wir irgendetwas mit dem Schlaganfall von Gaby Köster zu tun. Oder dem Tod von Amy Weinhaus.

Aber je näher das Jahresende rückt, desto kollektiver ist die Bewältigung dessen, was das TV als Highlights empfindet, also setzen sich die Vertreter des Kollektivs (die B-Promis) auf einer Couch zusammen und besprechen, was keiner von ihnen erlebt hat. Das hilft uns allen, weil wir vor dem Fernseher nochmals durchleben können, was wir auch nicht selbst erlebt haben. Verwirrend? Dann etwas Musik von Grönemeyer zur Ablenkung.

 

Ein paar Hochzeiten, mehr Todesfälle, das bleibt vom Jahr 2011, das bleibt von jedem Jahr. Amy tot, Griechenland tot, und Berlusconi in Pension - die Welt am Rande des Abgrunds. Vertraut man dem Maya-Kalender, sind dies unsere letzten Jahresrückblicke. Und wenn nicht im Dezember 2012, dann verschluckt spätestens in fünf Milliarden Jahren die Sonne die Erde. Was besser ist - nur noch ein Jahresrückblick oder fünf Milliarden -, kann ich so spontan nicht sagen. Aber wenn wir die Rückschau als Vorschau betrachten, wird uns der Stoff auch 2012 nicht ausgehen.

Wäre auch zu schade um das Material, das sonst vergessen im Archiv verstaubt. Wäre schade um all die Menschen, die geradezu betteln nach mehr Déjà-vu-Erlebnissen im Fernsehen. Wäre schade um die Wiederholungstäter, die uns gern im Zeitraffer den ganzen Müll nochmals auftischen. Und ewig schade wäre es um das kollektive Aufseufzen, das die persönliche Erfahrung eines ganzen Jahres mit Emotionen aus zweiter Hand übertüncht.

 

Mir passiert das nicht. Wenn ich meine innere Einkehr halte (irgendwo zwischen "10, 9, 8, ..." und "Wünsch ich dir auch!"), dann erinnere ich mich gerne an meine ganz individuellen Highlights 2011, nicht an den Schmutz, der durch die Gassen der Medienlandschaft zieht.

Welche das sind? Ganz klar Amy, Gaby, Kate und Katzi - wir haben soviel zusammen erlebt ...

Nina Munk

Kommentare_

Andreas Winterer - 02.01.2012 : 18.20
Wer eine Glotze hat, ist ja ohnehin schon als Autist defektem Cyberhelm besser dran. Speziell im Dezember aber können mich nur ein Koma 5. Grades plus zusätzliche Vollnarkose im schallgeschützten Floating-Tank davon abhalten, schreiend die Axt schwingen zu wollen. Der "Jahresrückblick" sollte von der Kirche als Gottesbeweis betrachtet werden, demonstriert er doch, dass zumindest die Hölle existiert. Es reicht ja auch nicht, keine Flimmerkiste zu haben, auch das Radio meint ja, die ganzen ohnehin schon überhörten Dudel-Hits des Jahres (plus des Jahrzehnts) nochmal abnudeln zu müssen (ah, Cher: "Believe", haben wir ja schon lange nicht mehr gehört (und wäre das wahr, wäre es nicht besser so?!?)), von den hündisch ergebenen Jahresrückblicker-Sonderheften, die einem Kiosk bedrängen, gar nicht zu reden. Selbst die schäbigste Imbissbude käme nicht auf die Idee, uns am Ende vom Jahr nochmal den alten Käse auftischen zu wollen, nur die Verbrechermedien genieren sich nicht, und <rumpel' polter' maul' ...>

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