Kolumnen_Zapped

Meldung des Tages

Neulich im Bus: Zwei Mädchen in der Pubertät, beide sind ausgerüstet mit der Weltliteratur "Heute" und blättern. Sagt die eine zur anderen: "Hast schon g’hört, der Arzt vom Michael Jackson ist schuldig!". Sagt die andere: "Hab ich in den Nachrichten gesehen, voll org, gell?"
Stellt sich mir die Frage: Voll org, daß Conrad Murray den Sündenbock für den Tod eines Junkies spielen muß? Oder voll org, daß man solche Meldungen in den Nachrichten sieht?    21.11.2011

Vor einigen Jahren war da diese Nachrichtensprecherin im amerikanischen Frühstücksfernsehen. Es war Krieg im Irak, es war George W. Bush, aber das war an diesem Tag Nebensache, denn Paris Hilton wurde wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt.

Das war zuviel für die Moderatorin Mika Brzezinski: Sie hat sich live vor der Kamera standhaft geweigert, noch eine weitere Meldung über Paris Hilton zu bringen. Sie hat sich hingestellt und erklärt, daß es genug Probleme auf der Welt gäbe und die Hilton nur das geringste Übel wäre. Und zum Schluß hat sie die Nachricht geschreddert, nur um ihrer Meinung bildhaft Ausdruck zu verleihen. Gestellt oder nicht: Das hat mir imponiert.

 

Und ich denke immer wieder daran, wenn ich mir die Nachrichten auf RTL 2 ansehe. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die unwichtigen Nachrichten proportional zu den schlechten Nachrichten anwachsen? Je mehr Bomben auf [hier beliebiges Land einsetzen] fallen, desto mehr Kinder adoptiert [hier beliebigen Namen einsetzen].

Und je mehr Länder bankrott gehen, desto genauer schaut der Zuseher auf die rot eingekringelte Cellulite am Oberschenkel von Madonna. Infotainment nennt sich die Worthülse, die Klatschspalten füllt und die Quoten steigert, aber brauchen wir wirklich noch mehr Info über Kate Middletons Schwangerschaft? Ist das wirklich die Nachricht des Jahres?

 

Infotainment ist wie ein Wechselbad: Zwei Minuten eiskalte Sparpakete, danach fünf Minuten lauwarmes Geschwätz. Zunächst rasselt China mit dem Kriegssäbel, dann geht’s weiter zu den Kinocharts, das vermittelt dem Zuseher das gute Gefühl, daß die Welt noch steht und "Der König der Löwen" auch in 3D lieb ausschaut. Und schon ist alles nicht mehr so düster wie vorher, die Sonne lacht wieder, das Schnitzel schmeckt noch, und übrigens, was machen wir zu Silvester?

 

Die gängige Meinung ist: Wir schauen lieber weg als zu. Ich glaube, wir schauen lieber auf als weg. Denn was im Schlafzimmer der Royals passiert oder in der Küche von Jamie Oliver, verspricht uns ein wenig Ablenkung, und die brauchen wir. Wir brauchen den mysteriösen Tod von Natalie Wood, wir brauchen die Trennung von Demi Moore und Ashton Kutcher, wir brauchen das Wimmerl auf Angelina Jolies perfekter Fassade.

Vielleicht deshalb, weil sich DER DA OBEN - falls existent - stur weigert, Interviews zu geben, und wir auf menschliche Ikonen ausweichen müssen. Vielleicht auch deshalb, weil das Leben schon Scheiße genug ist und so viel Peitsche ohne Zuckerbrot keiner erträgt.

 

Im digitalen Zeitalter ist es leicht, sich zu informieren. Es ist aber schwer, sich richtig zu informieren, denn wo echte Nachrichten sind, lauert auch immer der Krempel, der die Blicke auf sich ziehen will wie ein verzogenes Balg, das nach Aufmerksamkeit heischt. Da bleiben nur zwei Möglichkeiten: milde belächeln und so tun, als ob’s interessant wäre - oder ignorieren, sich alternativ eine dreistündige Parlamentsdebatte anschauen und da so tun, als ob’s interessant wäre.

Ihre Entscheidung, ich halte mich an Mika Brzezinski: Wenn ich noch eine Meldung über Bushido hören muß, dann schmeiß ich ihn in den Schredder.

Nina Munk

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