Kolumnen_Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.    08.09.2020

Hallo, Sie! Ja, genau: Sie! Schauen Sie nicht so langsam ... wissen Sie überhaupt, wo Sie sind? "Großstadt" ist das Stichwort. Millionen Menschen, Autos, Fahrräder, Fußgänger, öffentliche Verkehrsmittel, Häuser, Firmen. Da darf man sich doch ein bißchen Hektik erwarten. Trubel, Eile, eingehaltene Fahrpläne, kontrolliertes Chaos.

Dazu leben Sie doch überhaupt in der Stadt; sonst hätten Sie ja gleich in der Provinz bleiben können, mit den Hendln aufstehen und bei Einbruch der Dunkelheit wieder im Hühnerstall schlafengehen, dem Getreide bedächtig beim Wachsen zuhören und sich fragen, ob morgen, nächste Woche oder in zwölf Jahren irgendwas anders sein wird.

Nein, von einer angeblichen Metropole dürfen Sie schon verlangen, daß sich dort alles schneller bewegt, daß eine Stimmung der kreativen Betriebsamkeit herrscht, daß das Volk geschäftig seine Geschäfte erledigt. Stattdessen stehen Sie vor der grausamen Tatsache, daß die Untoten die Stadt träge - wie sonst? - mehr und mehr in Besitz nehmen. Und damit sind jetzt nicht die Bremser gemeint, die Sie eh schon kennen: die Valium-Hausfrauen, die an der Supermarktkassa ihr Kleingeld abzählen. Die notorisch Desorientierten, die immer oben an der Rolltreppe oder nach Verlassen eines Aufzugs im Weg stehenbleiben und sich verwirrt umblicken. Die halb bewußtlosen Autofahrer, in denen das Grünsignal der Ampel einen Zustand der Katatonie ("Soll i wirklich scho weiterfahrn?") auslöst. Mit denen haben Sie umgehen gelernt, fluchend zwar, aber im Bewußtsein, daß die Ihnen nur die Zeit stehlen.

Doch in den letzten paar Jahren sind ganz neue Bedrohungen auferstanden - und die wollen Ihnen das Leben rauben, jede Energie aussaugen, den finalen Burnout hervorrufen, auf daß Sie einer der ihren werden. Es sind die Gäste und Kellner in den Hipster-Lokalen (vor der Buddel Piefke, hinter der Buddel Piefke - oja, der Neo-Anschluß hat funktioniert!), die auf Zuruf nicht einmal gleich beantworten können, wes Geschlechts sie sind, und in denen das Phänomen "Bestellung" auf beiden Seiten einen Systemabsturz im Gehirn hervorruft. Es sind die zerlumpten Gestalten, die mit aufgehaltener Hand vor dem Supermarkt auf Sie zutaumeln und nicht mehr als ein grabesdumpfes "Ööööööhhh" hervorbringen. Es sind die kaiserschnittgeschwächten Jungmütter, die zu dritt nebeneinander auf Gehsteigen dahinschlurfen und sich an Kinderwägen festhalten, in denen ihre Retortenbabys vor lauter chronischer Müdigkeit keinen Ton mehr hervorbringen. Es sind die Junkies, die durch Passagen wanken, dem nächsten Schuß immer ein paar Schritte hintennach, mit ihren jenseitigen Augen müde Passanten anglotzen und dann dem Nachbarjunkie zuquengeln: "Heast, Oida, was rennstn soo, is die Heh hinta dir her oda wos?"

Die sind gar nicht tot, vermuten Sie? Mag sein - aber sie benehmen sich jedenfalls so. Gut, vielleicht haben Sie ja recht, vielleicht sind es nur die üblichen unterdrückten Massen, die sich heute nicht mehr durch die grauen, rußverseuchten Arbeiterviertel des Industriezeitalters schleppen, sondern bar jeden Antriebs durch die Event-Landschaft des Monopolkapitalismus trotten. Früher war die Herde nur zu den sogenannten Stoßzeiten unterwegs, aber sie hat sich wenigstens beeilt, weil es noch um was ging. Mittlerweile verstopft sie, kraftlos in ihre Handys muhend, ganztägig die U- und Straßenbahnwaggons, auf dem Weg zum Arbeits- oder Sozialamt, manchmal auch in irgendeine Ambulanz, man wird ja nicht gesünder, wenn man einmal hin ist ...

Die Donauzombies starren ohne einen Funken Interesse auf die Gratisblätter-Propaganda und wundern sich nicht einmal mehr darüber, wenn das "Öffi" (es fehlt ihnen an Energie, einen gscheiteren Ausdruck dafür zu finden) minutenlang in den Stationen oder im Tunnel stehenbleibt. Nur manchmal blicken sie auf und stoßen ein leises "Muh!" zwischen ihren fahlen Lippen hervor. Dann senken sie den Kopf wieder und lassen sich vom Smartphone durch ihr lebloses Leben leiten.

Jetzt sagen Sie einmal: Haben wir deswegen jahrzehntelang beschleunigende Substanzen eingenommen und uns durchs Leben beeilt, nur um uns jetzt von der urbanen Umwelt einschläfern zu lassen? Wollen Sie wirklich nur "Ihre Ruah" haben und am liebsten auch privat ein Beamtendasein führen? Warten Sie wie alle anderen nur mehr auf die Pension?

Warum dauert denn das so lang mit Ihrer Antwort?! Schneller! Schneller!!

Muh ...

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien und zwischendurch eine Zeitlang in der Provinz. Jetzt ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Endlich.

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