Kolumnen_Depeschen an die Provinz/Episode 23

Hirn mit Eier

"Wien hat 1.700.000 Gehirne" brüllt einem ein Autobahn-Motivationsschild kurz vor der Stadtgrenze entgeen. "Suchen wir sie!" stand wahrscheinlich auf dem nächsten - aber das hat längst ein ungarischer Lkw frontal erwischt.    17.02.2020

"Stö da vua, sovü Hirn gibts bei uns in Wien", wendet sich der Neue mit dem leicht verrutschten blonden Pepi seinem Nachbarn an der Buddel zu. "Da miassn manche jo zwa oder drei habn, wenn i ma gewisse Leit so anschau!"

Dabei lacht das Scherzküberl so laut und heftig, daß ihm das simultan inhalierte Krügel übers Kinn auf die Peek & Cloppenburg-Ausverkaufskrawatte rinnt. Der Angesprochene hingegen versucht immer noch die Information zu verarbeiten, die sich durch die letzten vierzehn Gspritzten ihren Weg in seinen Kopf bahnen will.

"Amüiionsimhundattausn?" stößt er dann mit dem Mut der Verzweiflung hervor. "Najooooooooo ... es kummt hoit immer drauf an, wos ma draus mocht."

"Na geh, wie maanstn des, Ricardo, oida Feschak?" ruft ganz begeistert der Wirt, der sich gern einen Karl mit seinen Gästen macht, und schenkt dem Vortragenden gleich noch ein Glasl ein.

Die Frau M., eine würdige alte Dame mit weißer Bluse und einem rosa Schal, schüttelt an ihrem Platz hinten beim Fenster den Kopf und sagt leise: "Die soin eam doch in Ruah lossn, den armen Kerl, der hots jo eh ned leicht." Als ihr Tischgenosse einwendet: "Wieso denn, is doch a Theata ..." fährt sie ihm lautstark drein. "Du hoitst überhaupt die Goschn, wann i red, du Oaschloch!" schreit sie ihn an, daß sich alle im Lokal zu ihr und ihrem Oidn umdrehen, aber schnell wieder wegschaun, bevor auch sie der gerechte Zorn trifft. Die Frau M. war nämlich gute vierzig Jahr in da Hockn, bevor sie in Pension gegangen ist, und sie kennt immer noch die Schwachstellen von den Männern - und zwar nicht nur die horizontalen.

Den Dialog an der Buddel kann aber auch sie nicht mehr aufhalten. "Is doch völlig klar: Wichtig is ned, obst a Hirn host, sondern obst as verwendn kannst!" Wie sich der Richie so in Rage und langsam wieder nüchtern redet, merkt man, daß er eigentlich ein gscheiter Mann ist. Nur muß er sich halt jeden Abend soviel eigene Gehirnzellen wegsaufen, daß er das Leben aushält. Die Stammgäste wissen das sowieso, deswegen klopfen sie ihm beim Vorbeigehen auch immer auf die Schulter und sagen: "Ois leiwand, Richie?"

Seinerzeit, beim DotCom-Boom, hat er mit seinem besten Freund eine Firma aufgemacht, mit Internet und so Sachen, und die ist natürlich zwei Jahr später krachen gegangen, ins Bodenlose. Danach war Privatkonkurs, Scheidung, Kinder weg, hin und wieder a Gelegenheitshackn, sonst Arbeitslose - und ab sechs am Abend immer da unten, im Stammbeisl am Eck, mit seinem ehemaligen Firmenpartner, zum Verzweiflungstrinken (oder Deppertsaufen, wie herzlose Menschen sagen). Mehr wie zehn Jahr lang. Sie haben sich immer grad ghalten an der Buddel, die zwei, immer gscheit gredt, nie Wickeln angfangt und keine Schulden gmacht. Aber vor vier Wochen is der Haberer vom Richie, dessen Namen nie wer mitkriegt hat, auch so a Computergenie halt, auf einmal gstorbn. Mit einer Leber groß wie a Basketball und so hart wie Granit. Seither is er zsammgangen, der Richie, das sagen auch die anderen Gäste. Und der Wirt heckelt ihn auch nie zuviel, weil er ja schon oft genug gesehen hat, wie sowas is.

Nur der Neue da an der Buddel begreift ned, wann der Spaß a End hat. Er glaubt, weil er sein Hirn das letzte Mal abgstaubt hat, wie no da Khomeini an der Macht war, kann er mitreden über Denkprozesse und Geistesblitze. Der Trottel. "Aso?" redet er den Richie schon wieder deppert an. "Und du waaßt natürlich, wie ma sei Gehirn verwendet, wos?"

"Paß auf, du Nudelaug", sagt der Richie jetzt und schaut den mit die falschen Haar so bös an, daß der sich gleich noch einmal an seinem Bier verkutzt. Auf einmal ist er wieder der Herr Richard, der damals dreißig Angestellte gehabt und zwanzig Millionen Schilling im Jahr verdient hat. "Paß guat auf: Rein rechnerisch hat Wien bei einskommasieben Millionen Einwohnern, tschenderbiologisch gesehen, achthundertfuffzigtausend Zumpferln. Und wenn die, wos die ganzn Zumpferln hobn, ned wissn, wos damit mochn soin, jankerns die Hälftn irgendwo daneben und nur die schlechten Spermatozottn kumman durch - und des Ergebnis is dann sowas wie du, du Nachgeburt von an Hoiboffn!"

Damit ergreift er blitzschnell das Toupet des Biertrinkers, wirft es zur Lokaltür hinaus und fahrt ihn an: "Und jetzt schleich di - deine Haar san scho draußn."

Abgang. "War aber scho a Theater", läßt sich da einer vernehmen.

"Und gusch", sagt die Frau M.

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte nach Jahrzehnten in seiner Geburtsstadt Wien 18 Monate lang auf dem Land - oder noch schlimmer: in einer Kleinstadt. An der Donau. Als er dann eines Besseren belehrt nach Wien zurückflüchtete, stellte er sich der Aufgabe, das Volk da draußen über das (provinzielle) Leben in der Metropole zu unterrichten.

Links:

Kommentare_

Print
Klaus Ferentschik - Ebenbild

Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 42

Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 40

Weana Madln 2.0

Treffen der Giganten: Der "Depeschen"-Kolumnist diskutiert mit dem legendären Dr. Trash die Wiener Weiblichkeit von heute. Und zwar bei einem Doppelliter Gin-Tonic ... weil man sowas nüchtern nicht aushält.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 39

Der Tag der Unruhe

Unser Kolumnist läßt sich von Fernando Pessoa inspirieren und stellt bei seinen Großstadtspaziergängen Beobachtungen an, die von ganz weit draußen kommen. Dort wirkt nämlich selbst das Weihnachtsfest noch richtig friedlich.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.