Depeschen aus der Provinz
Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien und zwischendurch eine Zeitlang in der Provinz. Jetzt ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Endlich.
Der durchschnittliche Stadtbewohner hat nur vier Wände - statt ein ganzes Haus mit Carport und Gemüsegarten. Aber in denen kann er wenigstens seinen Wahnsinn ausleben, ohne daß ihm dauernd wer nachspioniert. 19.06.2020
Wissen Sie eigentlich, wo auf dem Lande die meisten Liebschaften beginnen? Im Baumarkt. Dort schmiegen sich junge Menschen verschiedenartigen Geschlechts (man kommt ja nicht aus Genderhausen) lasziv vor den Riesenregalen aneinander und blättern verzaubert im Heimwerkerkatalog. Und dann schießt ihnen das unendlich starke, herzerschütternde Gefühl ein: Wir bauen uns ein Haus!
Alles andere - Heiraten, Kinderkriegen, Fremdgehen mit der Frau von der Baustelle nebenan, Scheidung und schon wieder ein neues Haus für die Ex - rührt von diesem ersten unglücklichen Impuls her. Von da an gehört man nicht mehr dem Partner, sondern der Bank. Und dem geldgeilen Baumeister, der einem ein Irrsinnsprojekt einredet, in dem locker 40 Asylanten Platz hätten (die übrigens dereinst auch drin wohnen werden, wenn man den Kredit nicht zurückzahlen kann).
Wir in Wien sind da viel gescheiter. Wir lassen Häuser bauen. Von der Gemeinde, von Genossenschaften (die oft auch der Gemeinde gehören) und von privaten Bauherren, die von der Gemeinde Zuschüsse kassieren. Es ist ein bissl wie in der seligen Sowjetunion, aber es ist uns auch wurscht. Größenwahnprojekte wie Alien-Monstertürme in Transdanubien oder architektonische Stelzenverbrechen am Donaukanal, gleich neben Autobahn und Müllverbrennung, lassen wir einfach leerstehen und ziehen lieber in einen schön renovierten Altbau. Natürlich werden draußen in den Außenbezirken auch Einfamilienkästen - nach dem Motto "Mein Heim ist mein Kastl" - errichtet, aber dort wohnen sowieso nur Gscherte, weil sie´s mitten in der Stadt dann doch nicht aushalten ...
Doch selbst Zugereiste genießen irgendwann das größte Glück des Großstadtlebens: die Anonymität. Hier muß man die Nachbarn nicht hineinlassen, damit sie abschätzende Blicke auf die neue Vollholzküche werfen oder höhnisch anmerken, daß ihr Flachbildschirm viel größer und noch viel flacher ist. Man grüßt die Leute stattdessen höflich auf dem Gang, sperrt dann seine 16 Sicherheitsschlösser auf und tritt ins Privatleben ein. Dort, wo man noch rauchen darf, ohne daß irgendein Gschaftlhuber die Anzeige macht - und das beim Licht einer altmodischen Glühbirne statt der EU-verordneten Idiotenfunzel. Und vor allem dort, wo man Einrichtungsideen verwirklichen darf, auf die noch kein IKEA gekommen ist.
Je nach Interessenslage lernt man im Lauf seines Lebens die obskursten Interieurs kennen. In den 80er Jahren zum Beispiel, als der Himmel noch voller Atombomben hing, betrat ich nichtsahnend die Wohnung eines Videosammlers - eine finstere Hofratswitwen-Reitschule, in der mir eine mumifizierte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger den Weg zur größten Louis-de-Funès-Kollektion der Stadt wies. (Was der Besitzer noch anhäufte, sprengt den Bereich der sexuellen Hygiene und sei daher an dieser Stelle nur schamhaft angedeutet ...) Und dann war da noch der Bekannte ums Eck in meinem damaligen Wohnbezirk, der in einer stets verdunkelten Philosophenhöhle hauste, wo man die hirnverrenkenden Welterklärungen praktisch von den Wänden kratzen konnte; aber wenigstens bekam man dort auch um drei Uhr nachts einen höllisch starken Kaffee und eine Jazz-Zigarette serviert.
Daß Exzentriker auch heute noch scheinbar unscheinbare Behausungen in magische Umgebungen verwandeln, ist erfreulich - auch wenn das Design mittlerweile nicht mehr von Innenarchitekten aus der Hölle stammt. Der Freund einer Freundin etwa lud vor kurzem in seine Neubauwohnung, hinter deren Tür sich eine mittelalterliche Burg auf sechzig Quadratmetern auftat, inklusive Thronsesseln, einem winzigen Rittersaal für das intime Gelage zu zweit sowie Schwertern und Streitäxten.
Kurz darauf suchte ich das Schrebergartenhäuschen einer begabten Literatin auf, in dessen Erdgeschoß Kleinkinder neben Riesenschlangen herumkrochen und ewiger Halloween angesagt war. Folgte man der Dame des Hauses aber in den Keller, der auf den ersten Blick nach typischer Bastelstube aussah, so landete man nach dem Passieren einer Geheimtür in einem phantastischen Nerd-Dungeon - mit verlockendem Himmelbett, Videoleinwand und (statt Peitschen und Ketten) einer Horror- und Science-Fiction-Videobibliothek, die den Gast freiwillig monatelange Einzelhaft wählen ließe, wenn er denn die Wahl hätte.
Und das, liebe Leser, müssen uns die vom Land erst einmal nachmachen. Aber denen fällt ja bestenfalls ein Fritzl ein ...
Depeschen aus der Provinz
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