Kolumnen_Depeschen an die Provinz/Episode 22

Regieanweisungen

Kennen Sie das Klassentreffen-Phänomen, wenn plötzlich hinter den Visagen komischer alter Menschen ihre jugendlichen Gesichter auftauchen? Das funktioniert auch bei Städten - und läßt unseren Kolumnisten ganz poetisch werden.    03.02.2020

Wie eine Folie legt sich das Gestern über das Heute.

Es gibt diese Augenblicke, wenn beim Spaziergang durch vertraute Gassen das Bild kippt. Wo gerade noch das Neonschild des x-ten Asien-Imbisses aufblinkte, schimmert plötzlich die Fassade der "Milchfrau" durch, bei der es jeden Tag frische Butter und Semmeln und natürlich auch die kleinen Bensdorp-Schokoladen gab, für deren Schleifen man irgendwann wieder eine kleine Bensdorp-Schokolade bekam oder armen Negerkindern helfen konnte. Dann ... SCHNITT ... und man findet sich mit der aktuellen Realität ab und ernährt sich halt von den Grundnahrungsmitteln des 21. Jahrhunderts, die da heißen: Pizzaschnitte, zehnmal aufgewärmte Nudeln mit letschertem Gemüse oder Gammelfleisch-Kebab.

Man verdaut und geht weiter. Und die Wirklichkeit verändert wieder ihr Antlitz: Dort, wo man aufgewachsen ist, zwischen Donau und Donaukanal, blendet die seelenlose Münzwäscherei zu der früheren Metallwarenhandlung um, in der man einst die U-Hakerln zum Guerillakampf der Gemeindebauten auf der Gstätten erworben hat, ein Papierstanitzel voll um einen Schilling. Wo einst Brachland war, steht heute ein Hallenbad; statt der Straße mit den Branntweinern, Konditoreien und Gemüsegeschäften ist die alte Heimat ein Labyrinth aus Spielhöllen, 1-Euro-Shops und Internet-Tschocherln geworden. Ein Slum, durch den desorientierte Sozialhilfeempfänger taumeln, wie so viele der aufgegebenen Bezirke Wiens.

Nein, wer einst hier gewohnt hat, kann sich in dem Grätzel nicht einmal mehr mit Hilfe angewandter Nostalgie zu Hause fühlen. Aber gottlob gibt es für die Privatrevolte gegen die Moderne Welt eine Alternative: Teile meiner Familie haben damals auf der anderen Seite der Müllverbrennung gewohnt, in dem Bezirk, wo es mich vor kurzem wieder hinverschlagen hat. Dort ist die Zeit nicht stehengeblieben, aber wenigstens etwas langsamer vorangeschritten. Ich steige also die alten "100 Stufen" hinauf, eile im Laufschritt durch eine Gasse (so wie früher statt des depperten Nachmittagsunterrichts in Leibesübungen), stehe schließlich vor dem Billa ... SCHNITT ... dem Ideal-Kino, wo ich mehrmals pro Woche die Nachmittagsvorstellung besuchte und kein Mensch das Jugendverbot ernstnahm. Wenn vier Leute da waren, wurde gespielt; warteten weniger vor der Kassa, dann hat sich manchmal einer ein Herz genommen und zwei Karten gekauft - weil: Was man so vom "Letzten Tango in Paris" gehört hat ... das zahlt sich sicher aus. (Hat es auch.) Nach dem Kino meist gleich in die Konditorei gegenüber, auf ein Cola und einen Kastanienreis mit Schlag ... SANFTE ÜBERBLENDUNG ... die Konditorei ist immer noch da, umgebaut zwar und mit einem Raucherraum, wegen der faschistoiden Gutmenschengesetze, aber immerhin gibt´s dort manchmal gebackene Mäuse als Tagesspezialität, und allein das hebt die Lebensqualität viel mehr als alle Super- und Drogeriemärkte, die heute zu Dutzenden einen Bezirk versorgen, der seinerzeit mit ein paar Konsum-Filialen auskam.

Aber egal. Gleich neben der Süßspeisenversorgung ist auch immer noch die Buchhandlung: gepflegte Auslagen, das Valie-Export-Poster hat der Zeit standgehalten, drinnen keine Spur von E-Books und Amazon, aber ... SCHNITT ... im Hinterzimmer war Jahrzehnte vorher noch eine Leihbücherei, als kulturelle Institution mindestens so bedeutend wie das Lichtspieltheater gegenüber. Dort hat einen die strenge, aber gerechte Frau Steinbach mit Science Fiction, Krimis und anderem Qualitätsmaterial versorgt, das heute auf Sammlerbörsen wahre Liebhaberpreise erzielt.

Man eilt weiter durch die Straßen, in Erinnerung an diese andere Zeit, als man sich mit einer Kinovorstellung nicht begnügen wollte - denn da war ja auch noch das Roxy-Kino, vielleicht zehn Gehminuten entfernt und mit einem ordentlichen Büffet, also rein ins Foyer und ... SCHNITTSCHNITT ... man steht wirklich in einem Foyer, aber dem einer typischen Bank, über die leider auch jemand einen Rettungsschirm aufgespannt hat. Die Filiale hat praktisch immer zu, dafür hängt ein Schild drinnen: "Um die Kundenzufriedenheit zu erhöhen, haben wir seit 1. Februar nur noch an zwei Nachmittagen die Woche geöffnet."

ABBLENDE.

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte nach Jahrzehnten in seiner Geburtsstadt Wien 18 Monate lang auf dem Land - oder noch schlimmer: in einer Kleinstadt. An der Donau. Als er dann eines Besseren belehrt nach Wien zurückflüchtete, stellte er sich der Aufgabe, das Volk da draußen über das (provinzielle) Leben in der Metropole zu unterrichten.

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