Depeschen aus der Provinz
Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien. Dann entschloß er sich, in die Provinz zu übersiedeln. Wie sich das anfühlte, erfahren Sie hier.
"Italien soll vorkommen", sagt der Chef. "Ich will es so." Und so richtet der brave Kolumnist seine Sehnsucht gen Süden, auch wenn es ihn in eine ganz andere Gegend zieht. Egal. Machen Sie den Chianti auf, rollen Sie die Nudel auf die Gabel und lesen Sie. Pronto, presto, Pasta asciutta. 30.09.2019
Der nackte Mensch hat auf der Straße nichts verloren.
Ich kriege Gemütskrämpfe bei seinem Anblick, auch wenn er nur halbnackt ist. Kaum wird es draußen zu warm (laut wissenschaftlichen Studien ist alles über 25 Grad der Temperaturbereich, den Depperte gern haben), entledigt sich das Volk seiner Hadern. Erwachsene Männer, die von ihrer Mutter zum 15. Geburtstag kein anständiges Beinkleid gekriegt haben, trampeln mit knorpligen Knien kurzbehost durch die Straßen, als wären sie immer noch in der Pfadfindergruppe "Bachen und Frischlinge". Die Damenwelt demonstriert anhand der aktuellen Jeans-Hotpants-Mode, daß der Mensch sich bereits in jungen Jahren in eine Orange verwandeln kann. Und kabriofahrende Lustgreise halten ihre Halbglatze selbst zur Mittagsstunde debil in die Sonne, bis sie die ungesunde Farbe eines frisch durchgekochten Hummers annimmt.
Ich gebe ja zu, daß man sich auch in der moralisch und geschmacklich völlig verkommenen Großstadt längst an solch ungustiöse Anblicke gewöhnen mußte. Aber hier in der Provinz nimmt die Nacktheit absurde Ausmaße an: Gern steht etwa der Landmann nach getaner Arbeit mit entblößtem Oberkörper vor dem Haus, schmaucht eine Zigarette und begrüßt Vorbeikommende mit einem beiläufigen Zucken der Wampe. Oder der längst im Ausgedinge befindliche Altbauer schleppt sich in der Abenddämmerung auf die Straße hinaus - nicht einmal mehr imstande, den Rollator ohne fremde Hilfe zu steuern, aber das Hemd hat er sich schon noch ausziehen können, mit letzter Kraft, damit die Welt sieht, daß Altwerden wirklich nichts Schönes ist.
An Tagen wie diesen wünsche ich mich - trotz Idiotenhitze korrekt gekleidet, aber ästhetisch schwer gedemütigt - ganz woandershin. Vielleicht nach Italien. Dort weilte ich einst als Kind, in den Ferien, als sich noch kein normaler Werktätiger einen Fernflug leisten konnte. Und später dann, weil ich die Toskana sehen wollte, bevor der deutsche Sozialdemokrat dort endgültig einmarschiert und die Grenzen sperren läßt.
Soweit ich mich erinnern kann (und weiß Gott, ich habe schon viel verdrängt), stehen die Herren in Rom oder Florenz nicht halb im Freien; OK, vielleicht abgesehen vom Bauarbeiter, aber der ist ja sowieso Teil einer internationalen Verschwörung zur Zerstörung des Stadtbildes und der menschlichen Sprache. Und die Damen dort bieten ihre Beine auch nur dann einer breiteren Öffentlichkeit dar, wenn die Waden etwas dünner sind als die Säulen des Kolosseums. Mit der sprichwörtlichen Eleganz der Italiener ist es zwar nicht mehr so weit her, die findet man mittlerweile eher in Moskau als in der Brüsseler Spitzendiktatur des Schwachsinns, aber ein bißchen was an Stil haben sie uns doch noch voraus.
Vielleicht ist Italien ja deshalb bis heute so ein Sehnsuchtsland, dessen Einfluß sich selbst dort zeigt, wo ich jetzt wohne. Wenn man im Sommer auf der Terrasse des alten Hotels unten am Hauptplatz sitzt, so schwärmen die Einheimischen, dann fühlt man sich dort wie an der Riviera. Stimmt zwar nicht, aber der Gedanke zählt ... genau wie bei den Prosecco-Grünen dieser kleinen Gemeinde, die untertags im Asphalt-Schanigarten Espresso schlürfen, nur um abends in der Cocktail-Bar herumzulungern und dort bei schwach toxischen Mixgetränken ein wenig auf mediterrane Lebensart zu machen.
Und dann, nach dem zehnten Negroni, wenn der Alkohol schon ordentlich in den Ohren rauscht, dann fühlen sie sich, als wären sie am Meer. Entspannt, bloßfüßig und ein bißchen so, als müßten sie gleich speiben, weil sogar der Stille Ozean nie ganz stillhält, schon gar nicht kurz vor der Sperrstunde.
Ich selbst halte ja das Meer für stark überschätzt und sitze viel lieber am Flußufer, wo ich geduldig darauf warte, daß die Leichen meiner Feinde vorübertreiben. Aber selbst ich wäre lieber im richtigen Italien, drunten am Strand, als weiter in dieser kollektiven Vision der vertanen Chancen und kleinen Fluchten zu verharren.
Darum, lieber Leser: Wissen Sie eine Wohnung für den Kolumnisten und zwei wohlerzogene Katzen? Mindestens 70 Quadratmeter, höchstens 900 Euro Miete im Monat, ruhig, aber bitte nicht zu ruhig. Ach ja, und natürlich in Wien. Schließlich darf man diese schöne Stadt nicht kampflos den Piefke und den Pfadfindern überlassen.
(Ernstgemeinte Zuschriften brauchen Sie nicht mehr zu schicken - weil der Umzug in die Hauptstadt längst gelungen ist.)
Ich berichte weiter, egal von wo. Versprochen.
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