Sido - Aggro Berlin
Universal (D 2010)
Ist denn heut´ schon Weihnachten? Ach geh, es wird langsam Sommer, wer wird denn da an Sankt Klaus denken? Aber ich schenke euch was - weil ein paar "Miststücke" gehen immer. Und bevor ich loslege, erst mal danke an alle, die die Wartezeit über mit Mails Druck ausgeübt haben. 14.06.2010
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Und weil das "Miststück" noch eine Weile bleibt, was in diesem Zusammenhang bedeutet, daß es bis zur Numero 200 weitergehen wird, habe ich für das Comeback ein Lied herausgesucht, das genau dieses Bleiben sinnbildhaft in grammatikalisch leicht schrägen Zeilen transportiert. Was soll ich schließlich anderes machen, als "Miststück" um "Miststück" weiterzuschwurbeln? Ich habe versucht, es (das MS, nicht euch, liebe Leser) loszuwerden, aber "die ignorante Ziege" merkt einfach nicht, daß sie mir auf den Geist geht. Hier mache ich mal einen Break, sonst pfusche ich noch dem hochverehrten Herrn Winterer in sein geniales Kolumnen-Handwerk. Stattdessen sage ich: Ihr und ich, wir haben es so gewollt, also wohlan, Kameradinnen und Kameraden, der Wörterberg ruft.
Was habt ihr denn die ganze liebe lange Zeit seit dem letzten "Miststück" - damals schroben wir noch Ende Dezember ´09 - gemacht? Mit welchen Sounds habt ihr euch die Zeit vertrieben? Seid ihr inzwischen auch auf Lena Meier-Landshut reingefallen? Nein, ihr doch nicht. Ihr hört brav die neue Paul Weller, die euch Papa Manfred empfohlen hätte, wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich vom EVOLVER-Orkus ein Stück weit aufs offene Meer hinaus treiben zu lassen. Vielleicht rennt ihr auch dem nächsten Hype von morgen hinterher, bis euch das Wasser aus allen Ritzen tropft? Geschenkt. Die Geschmackspolizei muß ohnehin wegen Griechenlandrettung und Eurostabilisierung dicht machen, wir mäandern daher weitgehend unbeaufsichtigt durch die Musik, die auch längst zur App mutiert ist. In diese Welt paßt auch Sido. Der Ostberliner Plattenbau-Freak, der sein Antlitz früher hinter einer Maske verbarg, die einem NHL-Torwart Freude gemacht hätte, ist einer, der auf mindestens jedem zweiten Teenager-Handy herumrappt, daß Sittenwächter ihre Freude dran haben.
Seit einiger Zeit ist er irgendwie geläutert und versucht, den schonungs- und maskenlosen Ghetto-Philosophen zu mimen. Er ist quasi ein John Lennon für die bildungsfernen Teile der deutschsprachigen Menschheit. Und wie der Beatle vergleicht er sich mit eigentlich Größeren: Bei Lennon war es Holy Jesus, der Mann, dem man nachsagte, daß er manches Achtel in Wasser verwandeln konnte, bei Sido heißt es: "Ich bin berühmter als Eminem." Was natürlich zu beweisen wäre. Im Gegensatz zu Paul VI. interessiert sich Slim Shady für eine derart blasphemische Äußerung in etwa so, wie es einen Baum juckt, wenn sich ein Schwein dran schubbert.
Und da sind wir nun endlich beim Schweinchen von Sido, denn das niedliche Borstentier ist Hauptdarstellerin im Video zu "Sie bleibt". Diese dritte Single aus dem ebenso erfolgreichen wie blödsinnig betitelten Album "Aggro Berlin" wäre genauso unbemerkt an mir vorbei ins Off marschiert wie der "Arschficksong" oder "Halt Dein Maul". Aber leider bin ich ein Infofreak, der die Fernbedienung nutzt, um von Phoenix zu Arte und dann weiter zu MTV und Viva durchzuzappen.
Genau dort blieb ich hängen - bei "Der mit dem Ferkel tanzt". Doch Sido trug das Tier nicht nur durch seine Wohnung oder ließ es am offenen Kühlschrank schnuppern - er tat dies auch zu einer wirklich netten Melodie, die nach uraltem Doo Wop und Sixties-Pop klingt. Wobei der Berliner natürlich nicht im Verbund mit vier, fünf anderen Typen singt, sondern eigentlich überhaupt nicht. Aber "Sie bleibt" hat Ohrwurmcharakter. Der Text dazu ist ebenfalls eingängig und wäre fast was für das Jubiläums-"Miststück" "It ain´t over till it´s over", also für die besten Beziehungsend-Songs. Sido versucht, die ehemals Angebetete mit Verve loszuwerden: "ich kümmer mich um gar nichts mehr mach nie mehr das Haus sauber/ich mach nen Knutschfleck an meinem Hals mit dem Staubsauger/Ab sofort komm ich schon da war ich kaum drinne/Und mein bester Freund ruft bei uns an mit ner Frauenstimme/Doch sie interessiert sich nicht dafür die ignorante Ziege". Etc. pp. Er hebt schon mal das Grab für sie aus, denn sie hängt ihm "wie seine Zunge zum Hals raus".
Letztlich paßt "Sie bleibt" aber dann doch nicht in die illustre Liste der Beziehungsend-Songs, weil der sonst so harte Bube vom Prenzlauer Berg tief im Herzen ein Lieber, Guter und Feiger ist: "Nein, du nervst nicht/Ignorante Ziege?/Ich hab doch nur gesagt wie sehr ich dich liebe". Und dann bleibt das Schweinchen eben, genau wie der Song, der sich ganz ordentlich im Gehörgang festsetzt. Ob Sido das dauerhaft gelingt, ist fraglich. Auf jeden Fall wurde er mittlerweile geadelt: Unplugged durfte er mittlerweile mit dem großen Stephan Remmler das noch viel größere "Da da da" intonieren.
Nächste Woche geht es an dieser Stelle mit Solomon Burke, dem letzten großen Soulmann, weiter. Und ihr ... ihr könnt natürlich auch bleiben ...
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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