Kolumnen_Depeschen aus der Provinz/Episode 6

Loch in der Landschaft

Schon im Dorfwirtshaus, unter dem unablässigen Starren der Einheimischen, fühlt sich der Zugereiste als Fremder in einem fremden Land. Aber das wahre Grauen lauert anderswo ...    11.03.2019

Du schaust in den Spiegel, mit zusammengekniffenen Augen. Du fragst dich, wann deine Bartstoppeln so weiß geworden sind. Und du preßt unwillig einen Satz aus dem Mundwinkel, den du gar nicht aussprechen wolltest: "Manche Leute vertrotteln, wenn sie aufs Land ziehen."

Damit meinst du nicht, daß auf dem Land mehr Trottel leben. Im Gegenteil: Wenn man optimistisch von einem globalen Idiotendurchschnitt von 99,5 Prozent ausgeht, dann dürfte deren Anhäufung in städtischen Ballungsgebieten weitaus höher sein als anderswo - weil sich Trottel bekanntlich gern zusammenballen.

Nein, es sind die unverbauten Räume und die völlig anderen Zeitabläufe, die du als Städter nicht gewöhnt bist. Sie wirken desorientierend und weisen den Weg in die eventuelle Verblödung. Das fängt schon mit der viel zu weitläufigen Natur an. Früher hast du ja Parks für den Höhepunkt der Spaziergehkultur gehalten - solange man dort nicht den Rasen betreten durfte. Jetzt lagern halbnackte Drecklock-Hippies, krakeelende Jungfamilien und grillende Horden auf der einst grünen Wiese. Deswegen bist du ja auch weggezogen. Trotzdem fehlt dir manchmal der Rhythmus der Großstadt, diese Hektik, die keinen Leerlauf zuläßt, die instinktive Ablehnung von Slow-Food oder Unfug wie der "Entdeckung der Langsamkeit". In der Provinz ist nichts so dringend, daß es sofort sein muß.

Um nicht komplett dem sabbernden Irrsinn zu verfallen, richtest du deinen übertrainierten Verstand also auf anderes. Zum Beispiel beim Besuch in einem nahen Dörfchen, wo du mit ein paar anderen im Hof eines Bauernhofs - also einem Bauernhofhof - herumhängst und Bier aus Flaschen trinkst. Alle stehen rund um eine Grube, die mitten in den Hof gegraben wurde, und tun so, als wäre nichts. Wenn du fragst, wozu diese Grube da ist, erwidern sie baß erstaunt: "Welche Grube?" Und wenn du insistierst, blicken sie aus halbgeschlossenen Augen gen Himmel und stoßen einen dünnen, kaum hörbaren Pfeifton aus. Plötzlich fühlst du dich, als stecktest du mitten in einer Lovecraft-Geschichte, irgendwo in Innsmouth, wo unaussprechliche Geheimnisse die Bewohner in bedrohliche Sonderlinge verwandelt haben.

Du trinkst dein Bier aus und dann noch ein paar. Dann fährst du zurück, dorthin, wo du jetzt wohnst, und kommst durch Gemeinden, in denen stämmige Werktätige riesige Gruben am Straßenrand ausheben. Und als du das nächste Mal auf der Autobahn unterwegs bist, merkst du, daß auch sie von neuen, mit Beton ausgekleideten Gruben von unirdischer Geometrie gesäumt ist. Du bleibst stehen und schaust die Arbeiter fragend an. Wie auf ein Zeichen aus den Tiefen des Alls rollen sie die Augen nach oben und geben diesen blasphemischen Nicht-Ton von sich. Du fragst dich, ob du nur vertrottelst. Oder ob es noch viel schlimmer ist.

Tekeli-li! Tekeli-li!

Peter Hiess

Depeschen aus der Provinz


Peter Hiess lebte mehrere Jahrzehnte in Wien. Dann entschloß er sich, in die Provinz zu übersiedeln. Wie sich das anfühlte, erfahren Sie hier.

Sperrstund´ is. Für immer.


Sehr lange Zeit bestand in vielen Dörfern eine Dreifaltigkeit aus Volksschule, Greißler und Wirtshaus. Als erstes verschwanden meistens die kleinen Schulen aus den Ortschaften, später die Greißler, dann die Wirten. Josef Planer, Sproß einer Wirtsfamilie in einem kleinen Dorf im südlichen Weinviertel, erinnert sich an Kegelbahn, Extrazimmer, Besucherschwund - und eine Vergangenheit, die ihn nie ganz losgelassen hat.

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